Kein Einschluss in der Jugendhilfe! Zur Tagung “Konflikte um Heimerziehung und Einschluss heute” am 4. März 2021

Am 4. März fand die Fachtagung zu Konflikten um Heimerziehung und Einschluss heute im Anna-Siemsen-Hörsaal der Fakultät Erziehungswissenschaft statt, zu der der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg, das Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung sowie der Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg eingeladen hatten. Das Interesse der Fachöffentlichkeit sowie Studierender und Mitglieder verschiedener Hochschulen aus Hamburg sowie dem Bundesgebiet war groß: ca. 150 Personen aus unterschiedlichen Bereichen der Jugendhilfe, nicht nur aus Hamburg, nahmen teil. 

Michael Lindenberg (em. Prof. am Rauhen Haus) und Tilman Lutz (Prof. an der HAW Hamburg) führten durch das Programm. Holger Schoneville, Juniorprofessor im Arbeitsbereich Sozialpädagogik, begrüßte die Teilnehmer:innen und schlug angesichts der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine einen Bogen zur Bedeutung eines Aufwachsens junger Menschen ohne Gewalt. 

Podium: Die Fachleute aus der Praxis sprechen

Podium: Die Fachleute aus der Praxis sprechen (Foto: Helen Vogel)

Im ersten inhaltlichen Block („Die Fachleute aus der Praxis sprechen“) schilderten Malte Block, Abteilungsleiter Jugendsozialarbeit bei basis & woge e. V., Leitung und  langjähriger Mitarbeiter der Anlaufstelle KIDS am Hamburger Hauptbahnhof, Maren Peters von der Koordinierungsstelle Individuelle Hilfen des Paritätischen, Alexandra Kauffmann von der Gästewohnung des ASP Wegenkamp sowie Peter Heemann von der Werkstatt Solidarität Essen unterschiedliche Ansätze jenseits von traditionellen institutionellen Heimzusammenhängen  in der Jugendhilfe. Deren Gemeinsamkeiten bestanden darin, dass sie auf Freiwilligkeit, Akzeptanz und Beteiligung sowie Aushandlung und Dialog gerichtet sind und ihre Arbeit darauf orientiert ist, die jungen Menschen als Subjekte anzuerkennen und sie nicht zum Objekt von Hilfe zu machen. Sowohl der Beziehungsarbeit ohne Zwang als auch der Vernetzung wurde von allen ein zentraler Stellenwert zugemessen. 

Podium: Die Jugendlichen sprechen (Foto: Helen Vogel)

Podium: Die Jugendlichen sprechen (Foto: Helen Vogel)

Im anschließenden Block unter der Überschrift „Die Jugendlichen sprechen“ saßen – moderiert von Jaqueline Gebhardt (KIDS) und Ronald Prieß (Botschafter der Straßenkinder) – Renzo Martinez, Dennis Engelmann (Kinderseelenschützer e.V.) und Michelle Lubinetz auf dem Podium. Sie hatten als Jugendliche mehrere Jahre Erfahrungen mit den repressiven Erziehungspraxen in den Heimen der Haasenburg GmbH und anderen Formen der Jugendhilfe machen müssen. Nach einer Einführung in die Geschichte des Konflikts um die Heime der Haasenburg schilderten sie, wie es dort darauf angelegt wurde, ihre Persönlichkeit zu brechen. Renzo Martinez berichtete, dass einige Dutzend ehemalige Insassen der Haasenburg-Heime zwischenzeitlich eine Interessengemeinschaft gegründet haben, die darauf zielt, Entschädigungszahlungen durchzusetzen sowie dazu beizutragen, dass sich ihre Geschichte nicht wiederholt. Isabelle Vandre, Mitglied der Fraktion der LINKEN im Brandenburger Landesparlament, stellte eine Initiative vor, um  die Entschädigungsforderung zu realisieren. Michelle Lubinetz schloss in einem bewegenden Fazit, dass es keine Perspektive sei, im Opferstatus zu verharren, sondern betonte, dass sie handlungsfähig sind – erst recht, wenn organisiert. 

Abschließend wurde einstimmig eine Deklaration verabschiedet, mit der 1. eine lückenlose Aufklärung der bis heute offenen Fragen im Zusammenhang mit dem Skandal der Haasenburg, 2. die Unterstützung der jungen Erwachsenen bei der Bewältigung der psychologischen und sozialen Folgen des Erlebten sowie 3. ihre Entschädigung durch die Ergänzung des Opferentschädigungsgesetzes und des SGB XIV um den Tatbestand der “institutionalisierten Gewalt” oder mindestens die Einrichtung eines Entschädigungsfonds durch das Land Brandenburg gefordert wird. [Download Deklaration]

In den anschließenden Workshops wurden unterschiedliche Aspekte vertieft: Vom Widerstand Betroffener über die Realisierung alternativer Umgangsweisen und die Kritik der geplanten Einrichtung am Klotzenmoorstieg, der bundesweiten Vernetzung von Aktiven für eine Überwindung von Formen des Einschlusses in der Jugendhilfe bis hin zu Möglichkeiten, Wohnungen für Straßenkinder zu schaffen. 

Podium: Stimmen aus der Wissenschaft (Foto: Helen Vogel)

Podium: Stimmen aus der Wissenschaft (Foto: Helen Vogel)

Auf dem Abschlusspodium nahmen Prof. Christian Schrapper und Prof. Diana Düring Platz und begründeten jeweils differenziert und eindrücklich, dass geschlossene Einrichtungen und Einschluss als Mittel der Pädagogik weder rechtlich oder fachlich noch mit Blick auf ihre Wirkungsversprechen zu rechtfertigen sind. Entgegen der massiven Tendenz der Spezialisierung mit den bekannten Folgen von Stigmatisierungen und dem Verschieben von jungen Menschen seien alternative Umgangsformen zu entwickeln. Dabei kann auch einiges aus der jüngeren Geschichte der Jugendhilfe gelernt werden. 

Abschließend wurde die Stellungnahme “Für den Ausbau sozialräumlicher Unterstützungsangebote. Gegen Ausschluss durch Einschluss – keine freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe!” einstimmig beschlossen. Mit ihr wird sich klar gegen die Planungen des Hamburger Senats bezüglich der Errichtung einer neuen spezialisierten Einrichtung an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Psychiatrie, die mit freiheitsentziehenden Maßnahmen arbeiten soll, ausgesprochen. Stattdessen wird dafür plädiert, die Mittel in den Ausbau und die Weiterentwicklung eines sozialräumlichen multiprofessionellen Hilfenetzes zu investieren. [Download Stellungnahme]

Die Tagung hat viele neue Kontakte hervorgebracht und Mut gemacht, sich weiter zu vernetzen und an einer Praxis der Jugendhilfe zu arbeiten, die nicht stigmatisiert, sondern auf eine “solidarische Kultur des Aufwachsens” (Reinhart Wolff) gerichtet ist.
Es gibt noch viel zu tun! 

Abschluss und Verabschiedung (Foto: Helen Vogel)

Abschluss und Verabschiedung (Foto: Helen Vogel)

Pressespiegel
Im Folgenden eine Übersicht mit Artikeln, die im Zusammenhang mit der Tagung erschienen sind:

Video-Dokumentation

Die Videoaufzeichnungen der einzelnen Abschnitte der Tagung sind nun auf der Plattform „Lecture2Go“ abrufbar: https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/l/6995

Dieser Beitrag wurde unter Aktuelle Materialien abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.