Michael Lindenberg: Nicht, warum ich gegen GU bin, sondern, warum andere dafür sind

September 2002 | Vortrag für die IGFH-Tagung: 200? 90? – 0! Warum Hamburg keine Plätze für geschlossene Unterbringung braucht (03.09.02, Hamburg)

Wo immer ich in der Debatte um die geschlossene Unterbringung hingesehen habe, begegnete mir bereits in den Eingangssätzen stets die Aussage: Die Diskussion ist polarisiert. “Polarisiert” heißt, dass es nur ein Dafür oder Dagegen gibt. Nichts anderes. Zwar wird diese Polarität auch durchbrochen (die Position des 11. Jugendberichts ist ein Beispiel dafür). Ich möchte jedoch feststellen, dass die Vertreter der jeweiligen Pole ihre Position stets sorgfältig argumentativ absichern: warum ich dafür – oder eben: warum ich dagegen bin. So ein Vorgehen kappt die Antennen in die jeweils andere Richtung.

Ich selbst bin gegen geschlossene Unterbringung. Ich will das in diesem Papier aber nicht ausdrücklich begründen. Ich habe ein anderes Verfahren gewählt: Ich will nicht als ein Gegner der geschlossenen Unterbringung herleiten, warum ich dagegen bin. Sondern ich will als dieser Gegner ein analytisches Verständnis dafür gewinnen, warum die Befürworter dafür sind. Ich will nach ihren “guten Gründen” fragen. Ich will meine Antennen in die Richtung der Befürworter ausfahren.

Bei einem solchen Vorhaben ist terminologische Genauigkeit gefragt. Was ist überhaupt mit geschlossener Unterbringung gemeint? Meine ich, wenn ich von geschlossener Unterbringung sprechen, eine Organisation, die wir “als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen”? Goffman (1972,11) definierte mit diesem Satz “Totale Institutionen”. Oder denke ich bei geschlossener Unterbringung an eine einzelne Person, bei der eine Gefahr für Leib und Leben vorliegt, und die eingesperrt wird, um dieser Gefahr so lange zu begegnen, bis sie vorüber ist? Wenn ich im folgenden von geschlossener Unterbringung spreche, so meine ich in Anlehnung an Goffman die erste Definition. Ich meine eine Organisation, die eigens dafür geschaffen wurde, Minderjährige in einem zeitlich und räumlich definierten Rahmen von der Außenwelt zu trennen, sie also von der übrigen Welt abzuschneiden und ihr Leben Regeln zu unterwerfen, die aus der Logik der Einrichtung und nicht den Erziehungsnotwendigkeiten der Minderjährigen hergeleitet sind.

Auf dieser organisationssoziologischen Definitionsgrundlage unterscheide ich drei zentrale Befürwortungsgründe für eine derartige institutionalisierte geschlossene Unterbringung. Erstens sicherheitspolitische Gründe, zweitens therapeutische und pädagogische Gründe sowie drittens Gründe im Einzelfall. Ich meine, dass diese Reihenfolge der Gründe ihre aufsteigende Bedeutung für die jugendhilfeinterne Diskussion wiedergibt.

Dieses Bedeutungskriterium der Befürwortungsgründe für die Jugendhilfe ist mein erstes Kriterium. Ich will diesem Kriterium noch ein weiteres Kriterium hinzufügen, um die drei Befürwortungsgründe weiter zu ordnen und sie damit der hier zu führenden Debatte besser zugänglich zu machen. Ich meine das Kriterium der Ethik. Ethik, was ist das noch gleich? Richtig, die Lehre vom sittlichen Verhalten des Menschen. Die Ethik ist der Unterbau für die Moral, also für das, was wir für gut und richtig oder eben für falsch halten. Unser Ethos ist unsere Gesittung, unserer Charakter. Alltagssprachlich unterscheiden wir ethisches von unethischem Verhalten. Das ist zwar nicht richtig, weil ja alles menschliche Verhalten sittliches Verhalten ist. Doch so benutzen wir es, und zwar auch in der Debatte um die geschlossene Unterbringung. Die Ablehnenden nehmen eine ethische Haltung ein. Sie argumentieren mit Begriffen wie Würde, gar Menschlichkeit, beziehen sich auf das Grundgesetz als höchstem normativen Ausdruck für die Wahrung von Menschenwürde. Was passiert dadurch? Den Befürwortern der geschlossenen Unterbringung wird damit implizit unethisches Verhalten vorgeworfen. Vorgeworfen wird ihnen, dass sie die Menschenwürde mit Füssen treten. Vorgeworfen wird ihnen, dass sie den Eingesperrten die Würde nehmen. Entsprechend formuliert der Leiter eines psychiatrischen Heimes, in dem in besonderen Einzelfällen geschlossen untergebracht wird: “Was ist mit Überlegungen, die möglicherweise zu einen JA führen? Sind sie obsolet? Ethisch nicht zu verantworten? Sind die Erfahrungen, die zu einem JA führen, nur Ergebnis mangelnder Versorgung, schlechter Mitarbeiter oder von fehlendem Veränderungswillen?” (Bayer 2001,1)

Für die Einsperrungspraktiker ist dieser Vorwurf der Ethiklosigkeit (oder besser: der falschen Ethik) selbstverständlich starker Stoff. Wie stark, kann ich gut an mir selbst verdeutlichen: Ich habe einige Zeit meiner Sozialen Arbeit mit einem Satz Schlüssel im Hosenbund im Knast verbracht. Ich hätte mir seinerzeit nicht gerne sagen lassen wollen, dass ich den Menschen dort die Würde nehme. Im Gegenteil: ich habe hart an einem Bild von mir selbst gearbeitet, dass ich dort versuchte, den Gefangenen unter diesen Bedingungen so viel ihrer Würde wie möglich zu erhalten. Und nun kommen die Gegner der geschlossenen Unterbringung und sagen genau dies: Ihr nehmt diesen Menschen die Würde. Ihr sperrt sie ein. Ja mehr noch: Damit ist auch gesagt, dass sie den Boden Sozialer Arbeit verlassen, denn “Soziale Arbeit wird geradezu zum Repräsentanten des Guten oder der sozialen Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, die ansonsten von Konkurrenz, Ausbeutung und Ausschließungsprozessen gekennzeichnet ist” (Schneider 1999,13) Die Befürwortung geschlossener Unterbringung kann damit innerhalb der Zunft als Verrat an dieser Repräsentanzfunktion interpretiert werden.

Einmal ganz davon abgesehen, dass ich das organisierte Einsperren in der Tat für einen würdelosen Vorgang mit einer problematischen Ethik halte – aber zunächst einmal peinlich und würdelos für die Einsperrenden – ist doch zu verstehen, dass die Einsperrer sagen: “Moment mal. Wir tun das nicht aus Verantwortungslosigkeit. Wir sind in ernster Sorge um diese besondere Person, bei der wir nach langer und reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen sind, dass es erforderlich ist. Auch unsere Gründe sind ethisch fundiert.” Das ist der ethische Hintergrund der Einzelfallargumentation in der Jugendhilfe. Aber auch die sicherheitspolitische Argumentation ist ethisch “mit ernster Sorge” begründet. Nur, dass sie nicht bei den einzelnen Jugendlichen ansetzt, sondern bei dem Schutz der Gesellschaft. Ihre Vertreter wollen aus ernster Sorge um den Schutz der Gesellschaft geschlossen unterbringen. Der von den Kritikern der geschlossenen Unterbringung an die Adresse der Befürworter gerichtete ethische Vorwurf kann von diesen daher leicht aufgegriffen und umgedreht werden: So schreibt zum Beispiel eine Kritikerin des Hamburger “Aktionsbündnisses gegen die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung”: “Jeder Praktiker der Jugendhilfe kennt auch die unzureichenden Leistungen der Alternative zur Geschlossenen Unterbringung. Gerade der Anspruch .Menschen statt Mauern’, mit dem man in Hamburg vor Jahren die geschlossenen Heime abgeschafft hat, ist immer wieder nicht eingelöst worden – mit fatalen Konsequenzen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Diese lebten zwar nicht .hinter Mauern’, dafür aber im Untergrund der Großstadt. Man ist kein Reaktionär, wenn man es unerträglich findet, dass zum Beispiel 10-jährige Kinder seit 3 Jahren nicht mehr regelmäßig zur Schule gegangen sind und die Gesellschaft es ihnen .in Freiheit’ selbst überlässt, stattdessen als Straßenkind zu leben.” (Henke 2002) Es ist zu erkennen: wer ethisch argumentiert, kann genau auf dieser Linie Gegenwehr erwarten.

Diese ethisch begründete Gegenwehr können die Befürworter geschlossener Unterbringung auch bei Angriffen auf ihr Pädagogikverständnis leisten. Zur Erinnerung: der zentrale Kritikpunkt der Gegner der Einführung geschlossener Unterbringung an einer auf der Vorbedingung der physischen Bewegungseinschränkung beruhenden Pädagogik lautet, dass es einen Unterschied macht, jemanden zu “haben” oder jemanden zu “erreichen”. Dieser Unterschied bedeutet, dass dieses “Haben” in geschlossenen Einrichtungen nicht zu einem pädagogischen Verhältnis (Erreichen) zwischen Erziehenden und zu Erziehenden führt, sondern zu einem Verhältnis von Eingeschlossenen zu Einschließenden – also gerade zu einem nicht-pädagogischen Verhältnis. Auch das ist für Pädagogen harter Tobak. Zur Verdeutlichung der Gegenwehr dazu zitiere ich noch einmal aus der gleichen Quelle: “Pädagogik kann selbstverständlich auch in Unfreiheit wirken. Das war schon immer so, das ist natürlich auch heute so und das wird auch in der Zukunft nicht anders sein. Die fachliche Frage ist lediglich, ob das konkret praktizierte Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit in der Erziehung dem individuellen pädagogischen Bedarf eines konkreten Kindes förderlich und damit angemessen ist oder nicht. Wer an die Stelle dieser schwierigen Abwägungsaufgabe prinzipiell eine Pädagogik ohne jedes Element der Unfreiheit setzt, verkauft Ideologie als Wissenschaft und ist deshalb nicht ernst zu nehmen.” (ebd.) Diese Gegenwehr baut darauf auf, den Gegnern der geschlossenen Unterbringung nun ebenfalls sittliches Versagen vorzuwerfen, weil sie nicht den individuellen pädagogischen Bedarf abwägen und ihre Sorgfaltspflicht zugunsten einer pauschalen ideologischen Einstellung verkaufen, die zudem nicht wissenschaftlich ist.

Ich habe diesen Ethik-Exkurs eingeschoben, weil er besonders deutlich zeigt, warum diese Debatte polarisiert sein muss. Es geht eben nicht nur um “fachliche Fragen”, sondern um sittliche Einstellungen. Es steht nicht nur unsere spezielle berufliche Eignung, sondern unsere generelle charakterliche Haltung auf dem Prüfstand. Dabei stellt die charakterliche Haltung der einen Seite stets die charakterliche Haltung der anderen Seite grundlegend in Frage. Und genau dies polarisiert. Ich halte es für nützlich, diesen Punkt bei der nun folgenden Betrachtung der drei zentralen Argumente für geschlossene Unterbringung im Gedächtnis zu behalten.

Sicherheitspolitische Gründe

Zunächst zu den sicherheitspolitischen Gründen. Dies sind Gründe, die in der Regel von Personen vorgebracht werden, die seltener in der Jugendhilfe zu finden sind, gelegentlich im Jugendkriminaljustizsystem, die in der Regel jedoch aus der Innenpolitik kommen. Ein einschlägiges Beispiel für diese Argumentation ist Frank Schöndube vom BDK (Bund deutscher Kriminalbeamter). Auf die Frage, warum immer mehr Hamburger Jugendliche in den letzten Jahren straffällig geworden sind – diese Frage wird aus dem Anstieg der bekannt gewordenen Jugendkriminalität in der polizeilichen Kriminalstatistik abgeleitet -, antwortet er mit Bekanntem: “Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren verschlechtert. Jugendarbeitslosigkeit, zerrüttete Familienverhältnisse, Schulversagen und zunehmender Werte- und Normenverfall machen aus jungen Menschen Straftäter.” Und eben auch “Vielfachtäter”. Aus seiner Sicht sind diese Vielfachtäter die Zielgruppe für eine geschlossene Unterbringung. Er argumentiert daher nicht täterorientiert, wie wir es in der Jugendhilfe gewohnt sind (die Reaktion orientiert sich an der Person des Täters und ihrem individuellen pädagogischen Bedarf), sondern tatorientiert, wie es in der Innen- und Sicherheitspolitik üblich ist (die Reaktion orientiert sich an der Anzahl der Taten und deren Schwere): “Bei den Vielfachtätern müssen wir andere Wege finden – auch eine pädagogisch begleitete geschlossene Unterbringung darf kein Tabuthema sein.” (Rattmann & Schöndube 2001)

Das methodische Konzept in der Jugendhilfe, soweit sie sich dieser Perspektive verpflichtet fühlt, ist unter dem Schlagwort “Grenzen setzen” weithin bekannt geworden. Grenzen können auch räumliche Grenzen sein, und die physisch erzwungene Einhaltung räumlicher Grenzen ermöglicht die pädagogische Grenzsetzung. Die Einhaltung der Grenzen wird geübt, Überschreitungen werden sanktioniert. Die Arbeit wird als ein Training in gewünschtem Verhalten begriffen; “durch Abschreckung und Bestrafung soll regelgerechtes Verhalten gesichert werden, die Angst vor der Sanktion soll Grenzüberschreitungen und Regelverletzungen erfolgreich verhindern.” (Schrapper 2001)

Dazu ist zweierlei zu sagen. Zunächst, dass hier ein Zusammenhang von Kriminalitätsreduktion und geschlossener Unterbringung hergestellt wird. Dazu wäre ja zumindest eine gesicherte geschlossene Unterbringung erforderlich. Das ist jedoch empirisch nicht haltbar, also kein sachlich zu begründendes Argument. So schreiben Wolffersdorff und Sprau-Kuhlen 1990: “Innerhalb des Untersuchungszeitraums von einem Jahr wurden bei 741 Jugendlichen insgesamt 1.000 Abweichungen aktenmäßig registriert, an denen etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen beteiligt war. (…) Zwei Drittel derer, die aus der offenen Abteilung eines Heimes wegliefen, taten dies auch dann, wenn sie in die geschlossene Gruppe desselben Heimes verlegt worden waren.” (1990,305)

Weiterhin möchte ich hierzu anmerken, dass die innenpolitischen Vertreter dieser Positionen in der Regel so weit von der Sozialen Arbeit entfernt sind, dass sie oft nur mit Verachtung auf diesen Beruf sehen und es sie kaum interessiert, wenn aus dieser Welt der Vorwurf des ethisch Verwerflichen an sie gerichtet wird. Trotzdem hat diese Position großen Einfluss auf die Jugendhilfe, schließlich sind die sicherheitspolitischen Gründe die bedeutsamsten Gründe außerhalb der Jugendhilfe bei der Einführung der geschlossenen Unterbringung.

Therapeutische oder pädagogische Gründe

Zweitens sehe ich therapeutische oder pädagogische Gründe. Damit sind wir in der Jugendhilfe angekommen, bewegen uns allerdings meist in ihrem Grenzbereich zur Psychiatrie. Außerdem haben wir es bei den Vertretern therapeutischer und pädagogischer Gründe in der Regel mit Personen aus stationären Einrichtungen zu tun. Ich will auch diese Diskussion anhand eines Zitats verdeutlichen. Darin zeigt sich, dass diese Diskutanten in der Regel davon ausgehen, dass bestimmte junge Menschen Angebote benötigen, die die Jugendhilfe selbst ihnen nicht bieten kann. Hier taucht die “Grenzen setzen”- Diskussion wieder auf, allerdings auf das Fach selbst bezogen: der Jugendhilfe sind fachliche Grenzen gesetzt.

Da es hier auf die pädagogische oder therapeutische Arbeit ankommt, kann die Einsperrung – wie bei den ordnungspolitisch Argumentierenden – nicht das zentrale, sondern lediglich das abgeleitete Argument sein: “Mehr als das physische Festhalten oder die stationäre Unterbringung kommt es darauf an, eine Betreuungskontinuität intensiver (personeller wie sachlicher) Unterstützungsleistungen zu gewährleisten. Die traditionellen Standardangebote der Jugendhilfe werden diesem Anspruch nicht gerecht. Vielmehr müssen bedarfsgerechte, individuelle, flexible Betreuungssettings im konkreten Einzelfall .auf Maß’ geschneidert werden.” (www.jugendpsychiatrie.net, Rev. 30.08.02)

Das methodische Konzept besteht hier darin, Schwierigkeiten als Krankheit zu erkennen, zu behandeln und zu heilen. In dieser Perspektive sind Abweichungen von der Normalität nicht als schuldhaftes Verhalten interpretiert, sondern als organisch oder seelisch verursacht. Bei entsprechend richtiger “Diagnose und Behandlung ist eine Rückkehr zur Normalität (= Heilung) möglich, mindestens aber eine Milderung der Beeinträchtigung.” (vgl. Schrapper 2001)

Ich möchte abschließend zu diesem Punkt noch darauf hinweisen, dass die pädagogische und therapeutische Argumentation sich in vielen Fällen mit der erstgenannten sicherheitspolitischen Argumentationslinie deckt. Um dies anhand der Äußerung eines Justizstaatsekretärs zu zeigen: “Unsere geltende Rechtslage gebietet grundsätzlich ausreichende Möglichkeiten der Unterbringung zur Erziehung schwer verhaltensauffälliger Jugendlicher. Eine (…) Arbeitsgruppe (…) hat jedoch (…) darauf hingewiesen, dass in besonders gelagerten Einzelfällen eine vorübergehende intensiv-therapeutische Betreuung unter freiheitsentziehenden Bedingungen erforderlich werden kann. Ich teile diese Auffassung. Dabei ist die geschlossene Unterbringung jedoch kein Mittel an sich, sondern lediglich eine notwendige Basis für pädagogische und therapeutische Interventionen, da durch die geschlossene Unterbringung ein problemloses Entweichen des Jugendlichen erschwert wird.” (Thüringer Justizministerium 2000)

Damit ist der besondere Einzelfall bereits erwähnt, und ich komme zum Übergang auf das dritte und in der Jugendhilfe gewichtigste Argument: eben dieser besondere Einzelfall.

Der besondere Einzelfall als Grund

Mit dieser Argumentationslinie möchte ich mich besonders befassen, und daher habe ich sie auch an den Schluss meiner Ausführungen gestellt. Denn hier sind wir im Herz der Jugendhilfe. Ja mehr noch: die Position des besonderen Einzelfalls ist die theoretische Position der Jugendhilfe. Darüber hinaus ist sie auch eine aus der Praxiserfahrung abgeleitete Position. In der hier von mir skizzierten Debatte beginnt sie stets mit einem “Wohin”: “Wohin mit den besonders Schwierigen?” Wir haben es dabei mit einer sehr starken Strömung im sozialpädagogischen Berufsalltag zu tun. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Niemand will sich auf Dauer mit schwer lösbaren Problemen herumschlagen. Mit unlösbaren schon gar nicht. Die Arbeit soll Sinn machen, auf ein Resultat hin orientiert sein. Hier ist die geschlossene Unterbringung oft ein Hoffnungsträger.

Es gibt eine ganze Reihe von Versuchen, durch organisatorische Vorkehrungen die Situation der Unlösbarkeit entweder nicht eintreten zu lassen, oder sie ertragen zu können. Ich denke etwa an das Modellprojekt: “Was tun mit den besonders Schwierigen?” in dem die Stadt Köln, der Landschaftsverband Rheinland und die Uni Koblenz-Landau unter der Leitung von Christian Schrapper nach Wegen im Umgang mit besonders schwierigen Kindern und Jugendlichen suchen. Auch in Hamburg gibt es diese Versuche, die von Lerche (1995) unter das Stichwort: “Vorbehaltlose Auf- und Annahme statt Ab- und Ausgrenzung” gestellt wurden. Dabei hat sich gezeigt, dass es mit der vorbehaltlosen Auf- und Annahme nicht so einfach ist. In Hamburg hat das die Auswertung von Fallakten sogenannter Grenzfälle ergeben. Es wurde deutlich, “dass in nicht wenigen Fällen bei mehreren, z.T. bei über 30 Trägern angefragt wurde, bis es gelang, ein Hilfearrangement zu entwickeln.” (Lerche 1995,13)

Bei diesen Schwierigkeiten liegt es nahe, sich für den besonderen Einzelfall ein besonders für ihn vorgehaltenes und damit die Jugendhilfe entlastendes Angebot zu wünschen. Ich will diese Argumentation des besonderen Einzelfalls an einem Träger zeigen, der seit 20 Jahren geschlossene Unterbringung praktiziert, dem Mädchenheim Gauting in Bayern. Dieses Beispiel zeigt die Zentralität der Argumente der Besonderheit, des Einzelfalls und zusätzlich der Sorgfältigkeit: “Nachdem die Bayerische Staatsregierung ein Konzept zur intensivtherapeutischen, individuell geschlossenen Unterbringung für junge Menschen entwickelt hatte, entschloss sich der Diozösen-Caritasverband München und Freising nach sorgfältiger Prüfung christlich/ethischer und fachlicher Fragen, als Träger die Aufgaben der pädagogischen, erzieherischen und therapeutischen Betreuung von Jugendlichen zu übernehmen, die hinsichtlich ihres Gefährdungsmaßes und ihrer Persönlichkeitsstörungen einer solchen Betreuung bedürfen, sich aber jeder Jugendhilfemaßnahme auf freiwilliger Basis entziehen.” (www. maedchenheim-gauting.de Rev. 01.09.2002)

Hier erst endet dieser Satz. Es ist der längste Satz in dem zweiseitigen Papier, und er zeigt vor allem den Versuch des Heimleiters, seiner am besonderen Einzelfall orientierten Begründungspflicht genüge zu tun. Es sind erstens nicht nur ethische, sondern auch christliche und fachliche Fragen, die vorher geprüft wurden. Und es sind zweitens nicht nur pädagogische, sondern auch erzieherische und therapeutische, sogar intensiv-therapeutische Aufgaben, die im Rahmen der geschlossenen Unterbringung wahrgenommen werden. Drittens muss nicht nur eine Gefährdung, sondern darüber hinaus eine Persönlichkeitsstörung vorliegen. Viertens muss klar sein, dass sich die geschlossen Untergebrachten vorherigen freiwilligen Maßnahmen entzogen haben.

Schließlich fünftens, und dies wird anhand des folgenden Zitats deutlich, muss das Personal ein besonderes Engagement mitbringen: “Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Mädchenheim Gauting sind davon überzeugt, dass zu einer christlich verantworteten Arbeit mit jungen Menschen die Bereitschaft gehört, sich auch mit besonders schwierigen Fragestellungen im Bereich der Jugendhilfe auseinanderzusetzten. Zu den Hilfeangeboten gehört auch die individuell geschlossene Unterbringung, wenn sie als Hilfe verstanden wird und wenn die Bemühungen um eine erzieherische Beeinflussung und der Schutz des jungen Menschen in einem offenen Setting wirkungslos sind.” (ebd.)

Interessant ist weiterhin, dass – jedenfalls terminologisch – nicht deutlich geschlossen untergebracht wird. In dem hier zitierten Text ist von “individuell geschlossenem Bereich”, “individuell geschlossener Gruppe” und “intensivtherapeutisch, individuell geschlossener Unterbringung” die Rede. (vgl. auch Lindenberg 2002) Andere Beispiel dafür, dass der nackte Begriff “geschlossen” bis auf wenige Ausnahmen entweder vermieden oder zwischen abschwächenden Attributen versteckt wird, zeigen diese Wortkombinationen: “pädagogisch-betreute Intensivgruppe”; “individuelle Teilgeschlossenheit”; “intensiv-pädagogische Gruppe”; “individuell-geschlossene intensivtherapeutische Gruppe”; “teilgeschlossene Gruppe.” (Landesjugendamt Saarland 2001)

Abschließende Bemerkungen

Ich habe als ein Kritiker der geschlossenen Unterbringung versucht, mich in die Argumentation der Befürworter hineinzuversetzen. Dies ist ein Versuch gewesen, ihre Argumente zu verstehen. Ihre Argumente zu verstehen bedeutet nicht, sie zu teilen. Doch soll dieses Verstehen die Selbstkritik der Kritiker befördern. Mein zentraler selbstkritischer Punkt ist: Kritiker sollten es vermeiden, die Debatte ethisch aufzuladen, weder implizit noch explizit. Warum? Weil Kritiker dies ruhig der Seite der Befürworter überlassen sollten. Ethische Aufladungen sollen in der Regel das Fehlen sachlicher Argumente überdecken. Das ist für die Kritiker einer geschlossenen Unterbringung – geschlossene Unterbringung in dem von mir eingangs definierten, organisationssoziologischen Sinn – gar nicht erforderlich. Das organisierte Einsperren in eigens dafür geschaffenen Institutionen kann nicht rational begründet werden. Es kann aber rational kritisiert werden, und das ist in den vergangenen Jahrzehnten vielfach geschehen. Diese Ergebnisse müssen selbstverständlich weiter diskutiert werden. Dabei ist auch der Einwand zu berücksichtigen, wie er beispielsweise von der bereits zitierten Kritikerin des “Hamburger Aktionsbündnis gegen geschlossenen Unterbringung” vorgebracht wurde: “Durch wissenschaftliche Studien ist bisher eben nicht hinreichend belegt worden, dass geschlossene Heime die Probleme erst schaffen, die sie beheben sollen. Zahlreiche dieser .wissenschaftlichen’ Studien wussten schon vorher, dass sie dieses Ergebnis haben wollten und haben entsprechende Analysen deshalb auch vorgelegt. Die Argumente der Befürworter der Geschlossenen Unterbringung sind kaum gehört und eben nicht in wissenschaftlich ernst zu nehmender Weise überprüft worden.” (Henke 2002) Richtig daran ist, dass gerade Kritiker der geschlossenen Unterbringung nicht kritiklos wissenschaftsgläubig sein sollten. Deutlich wird an diesem Zitat aber auch, dass ein wissenschaftlicher Beleg für die Argumente der Befürworter noch aussteht.

Ich schlage daher vor, den Widerstand gegen die geschlossene Unterbringung stets mit sachlichen Argumenten zu beginnen und zu verdeutlichen. Nur dieser Weg führt zu einer Ethik der Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit. Und eben diese Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ist dringend erforderlich, wenn es um die Frage geht, wie es weiterhin gelingen kann, mit besonders schwierigen Kindern und Jugendlichen ohne geschlossene Unterbringung umzugehen. Dabei müssen auch die Fehler und Mängel der Vergangenheit im sozialpädagogischen Handeln mit diesen Menschen ohne Tabus besprochen werden können. Dies können die PraktikerInnen der Jugendhilfe mit großem Selbstbewusstsein tun, denn es ist keineswegs zutreffend, dass sie es in der Vergangenheit 10jährigen Kindern selbst überlassen haben, seit drei Jahren nicht mehr regelmäßig zur Schule zu gehen und als Straßenkind zu leben.

Für diesen schwierigen und selbstkritischen Weg gibt es Beispiele, und das von mir erwähnte Modellprojekt “Was tun mit den besonders Schwierigen” der Stadt Köln, des Landschaftsverbands Rheinland und der Uni Koblenz-Landau ist nur eines dieser Beispiele. Diese Beispiele müssen benannt und gezeigt werden. Gehen die Kritiker der geschlossenen Unterbringung allerdings von vornherein mit einer ethischen Aufladung zu Werke, wonach sie allein auf dem rechten Weg sind und in der Vergangenheit alles richtig gemacht haben, so verstärkt das nur das “heimliche Verbot” in der Fachdebatte, über geschlossene Heime nachzudenken. Für die Diskussion ist es jedoch wichtig, dass die Befürworter der geschlossenen Unterbringung innerhalb der Jugendhilfe ihre Argumente offen vorbringen und sich der offenen Kritik stellen. Über Heime darf nicht in Heimlichkeit nachgedacht werden. Diese Heimlichkeit führt nur zur Heimsuchung von Kindern und Jugendlichen und zur Heimtücke in der Fachdiskussion. Heimliche Gewinner dieser Heimlichkeit sind diejenigen, die Jugendhilfe in aller Öffentlichkeit als ordnungspolitische Veranstaltung propagieren.

Literatur

Bayer, W. (2001). Geschlossene Heime. Warum wir sie brauchen und oder nicht? Vortrag. www.psychiatrie.de/pdf/heime04.pdf (Rev. 30.08.2002).

Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. (2002). Bonn.

Goffman, E. (1972 (am. 1961)). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp.

Henke, M. (2002). Dem “Aufruf des Aktionsbündnisses gegen geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Hamburg und anderswo” muss laut und deutlich widersprochen werden. Unv. Stellungnahme zum Aufruf.

Landesjugendamt Saarland. (2001). Einrichtungen der Jugendhilfe, die geschlossene Unterbringung durchführen – Bundesumfrage vom Juni 2000. Saarbrücken: Manuskript. Lerche, W. (1995). Wegsperren als Lösung. Referat Deutscher Jugendgerichtstag 22.-27. September 1995. Manuskript.

Lindenberg, M. (2002). Der Versuch der Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung in Hamburg. SozialExtra, September, 40-43.

Rattmann, C. & Schöndube, F. (2001). Tut der Senat genug gegen Kriminalität? Mehr Gewalt und Straßenraub in Hamburg: Interview mit Frank Schöndube vom BDK über Ursachen und drohende Gefahren. Welt am Sonntag, 11.03. (www.bdk-hamburg.de/Vorlagen%20Seiten/ Veroeffentlichungen/Flugblaetter/ (30.08.02)

Schneider, J. (1999). Gut und Böse – Falsch und Richtig. Zur Ethik und Moral der sozialen Berufe. Frankfurt/Main: Fachhochschulverlag.

Schrapper, C. (2001). Was tun mit den “Schwierigen”? Erklärungs- und Handlungsansätze der Kinder- und Jugendhilfe im Umgang mit “schwierigen” Kindern und Jugendlichen. Überarbeite Fassung des Festvortrags anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Heidehauses am 17.08.2001 in Neuwied. Manuskript.

Thüringer Justizministerium. (2000). Pressemitteilung: Vortrag zum Thema: “Geschlossene Heimunterbringung – eine adequate Reaktion auf Jugenddelinquenz auch in Thüringen?” Justizminister Manfred Scherer spricht auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) in Erfurt.

www.thueringen.de/de/justiz/presse/00235/unindex.html (Rev. 30.08.02).

Wolffersdorff, v. & Sprau-Kuhlen. (1990). Geschlossene Unterbringung in Heimen – Kapitulation der Jugendhilfe?. Weinheim und München: Deutsches Jugendinstitut. www. maedchenheim-gauting.de (Rev. 01.09.02)

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