ver.di: 21 überzeugende Argumente gegen die Geschlossene Unterbringung

August 2002

Aus berufenem Munde: 21 überzeugende Argumente gegen die Geschlossene Unterbringung

Extrablatt der ver.di – Betriebszeitung Rotstift anlässlich der Hamburger Personalversammlung des Landesbetriebs Erziehung und Berufsbildung vom 28.08.02

Auf immerhin mehr als vier Seiten geht Herr Lerche in seinem Brief vom 14. August ausführlich auf die Aufregung und Diskussion um die Wiedereinführung der Geschlossene Unterbringung ein, dabei lässt er durchaus Verständnis für die Sorgen der Beschäftigten des Landesbetriebs erkennen.

Weniger Verständnis zeigt er dafür, dass die Diskussion um freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Jugendhilfe nach seiner Beobachtung an Schärfe gewinnt und einige Akteure dabei Gefahr laufen, die Grenzen zur Diffamierung zu überschreiten. Den Gegner der Geschlossene Unterbringung unterstellt unser Geschäftsführer, eine nicht immer sehr sachlich und an Fakten orientiert geführte öffentliche Debatte. Er attestiert ihnen Polemik und sieht darin das Eingeständnis fehlender konzeptioneller Alternativen.

Da ist es gut, dass der ROTSTIFT in den Jugendhilfearchiven auf ein Dokument gestoßen ist, dem auch Wolfgang Lerche sicher strickte Sachlichkeit bescheinigen wird. Der bereits 1995 von einem namenhaften Vertreter der Hamburger Jugendhilfe verfasste Beitrag hat aus unserer Sicht nichts von seiner Aktualität und Prägnanz verloren. Der ROTSTIFT will mit der auszugsweisen Veröffentlichung seinen Beitrag zur sachlich und an Fakten orientiert geführten Debatte leisten.

1.

“Wer formuliert das Problem?

Zunächst waren es die Medien, die durch z. T. reißerische Berichterstattung die Öffentlichkeit aufmerksam machten. Vielen, auch seriösen Journalisten war es unverständlich, dass es in einer Gesellschaft, in der man sich daran gewöhnt hat, die Lösung von Problemen an irgendwelche Spezialisten oder Institution zu delegieren, nicht gelingt, einige, scheinbar außer Rand und Band geratene junge Menschen ‘in den Griff’ zu bekommen. […]

Die Medien haben auch erkannt, dass spektakuläre Einzelschicksale auf dem Markt der Nachrichten und der Unterhaltung etwas Wert sind. Die immer wiederkehrende Berichterstattung wiederum bestärkt die Ängste und Sorgen der Bürger. Eine Spirale, die sich selbst nährt. Diese Angstspirale lässt sich auch in anderen Feldern der kriminologischen Forschung erkennen. Sie hat dazu geführt, dass das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger stark von der tatsächlichen Bedrohung oder Gefährdung abweicht.”

2.

“Es entsteht bei der Diskussion um freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen zunehmend der Eindruck, als wenn auch politisch Verantwortliche eher an symbolischen statt an tatsächlichen Problemlösungen interessiert sind, dass sie die Zusammenhänge in ihrer Komplexität nicht zur Kenntnis nehmen und statt dessen die in den Medien dargestellte Welt als die wirkliche begreifen und sich damit begnügen, durch scheinbare einfache Lösungen kurzfristige öffentliche Beruhigung zu erreichen.”

3.

“Bei genauerer Betrachtung stellt sich oft heraus, dass ein Beweggrund der Justiz, die Jugendhilfe in Anspruch nehmen zu wollen, die desolate Situation in vielen Jugendstrafvollzugsanstalten ist […].”

4.

“Von der Jugendhilfe hat man da offensichtlich eine andere Meinung. Das ehrt uns, zeigt jedoch auch, dass es in dieser Diskussion letztendlich darum geht, eine humanere, jugendgerechtere Form der Strafe einzuführen. Dies ist eindeutig die Aufgabe der Justiz und dies sollte auch so bleiben. Ich halte es rechtsstaatlich nicht für vertretbar, wenn es quasi eine Nebenjustiz gibt, die unter dem Deckmantel der Erziehung Strafen verhängen und durchführen kann.”

5.

“Bei denen, die es als schlicht ungerecht empfinden, dass junge Menschen, die nach vielen Straftaten scheinbar konsequenzlos ungestraft weitermachen können, steht der Strafaspekt eindeutig im Vordergrund. Diesen Menschen ist es im Grunde auch gleich, ob der Wegschluss in einer Haftanstalt oder einer Einrichtung der Jugendhilfe erfolgt. Die Betonung des Wortes Wegschluss liegt hier eindeutig auf weg.”

6.

“[…] es (gibt) eine erhebliche Diskrepanz zwischen der objektiven Gefährdungslage und dem subjektiven Sicherheitsgefühl vieler Menschen […]. Darüber hinaus gibt es bei vielen Menschen offensichtlich sehr unterschiedliche Maßstäbe, nach denen unterschiedliche Risiken abgewogen werden. Augenscheinlich gibt es eine erheblich größere Toleranz gegenüber den weit höheren Risiken des Straßenverkehrs, dem immerhin jedes Jahr in Deutschland die Einwohnerzahl einer Kleinstadt zum Opfer fällt, als gegenüber den Risiken, von einem autofahrenden Kind überrollt zu werden.”

7.

“Andererseits wissen wir auch um die delinquentes Verhalten verstärkende Wirkung von Haft.”

8.

“Auch wenn die Jugendhilfe geschlossene Unterbringung durchführt, werden ihre Einrichtungen alle Merkmale einer totalen Institution aufweisen. Es sind Strukturen erforderlich, die die Chancen der erzieherischen Bemühungen gegen Null tendieren lassen. Als Beispiele sollen nur die folgenden Stichworte aufgeführt werden:

  • Häufung schwieriger und schwierigster Problemlagen.
  • Entstehen einer eigenen Einrichtungskultur mit eigenen Normen und Werten.
  • rund um die Uhr Sicherung durch wechselnde Bezugspersonen im Schichtdienst.
  • reduzierte soziale Betätigungs- und Lernmöglichkeiten durch äußere Begrenzung und hohen Anpassungsdruck.
  • Begünstigung individueller Krisen durch die gegenüber der Institution empfundenen Ohnmacht.”

9.

“[…] wird von den Befürwortern geschlossener Heimunterbringung das Argument bemüht, dass man nur den, den man hat, auch erziehen könne. Jemanden “haben” wird hierbei auf den rein physischen Aspekt verkürzt. Die Erfahrung aus der Pädagogik lehrt jedoch, dass jemanden haben und jemanden erreichen zweierlei Dinge sind.”

10.

“In den Einrichtungen entwickelt sich zwischen den Minderjährigen und den Fachkräften eher das Verhältnis von Eingeschlossenen zu Schließern als das Verhältnis von zu Erziehenden zu Erziehern. Dies führt bei vielen jungen Menschen entweder zu Anpassungsleistung für die Zeit des Einschlusses oder zur Rebellion bzw. zum Entweichen”

11.

“Auch die Geschlossenheit der Einrichtung selbst ist eher eine Illusion, den Wirklichkeit. Ich zitiere aus der bereits erwähnten DJI-Studie:

‘Innerhalb des Untersuchungszeitraumes von 1 Jahr wurden bei 741 Jugendlichen insgesamt annähernd 1000 Entweichungen aktenmäßig registriert, an denen etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen beteiligt war. (…) Zwei Drittel derer, die aus der offenen Abteilung eines Heimes wegliefen, taten dies dann auch, wenn sie in die geschlossenen Gruppe desselben Heimes verlegt worden waren.’ So wie für die Haft eine hohe Rückfallquote nachgewiesen ist, gibt es auch für die Wirkung geschlossener Unterbringung keine positive Bilanz.”

12.

“Auch bei dem Argument, dass geschlossene Heimerziehung und Haft einen präventiven Effekt haben, steht letztendlich der Strafaspekt im Vordergrund. Die Erwartung ist, dass durch die drohende Sanktion Menschen davon abgehalten werden, Regelverstöße zu begehen. Mit diesem Präventionsverständnis hat nicht nur die Justiz sondern auch die Jugendhilfe schlechte Erfahrungen gemacht. Aus gutem Grund wurde mit Einführung des KJHG 1990 u. a. die sogenannte Fürsorgeerziehung abgeschafft. Lange Jahre hatte die Jugendhilfe das Image und z. T. auch das Selbstverständnis als Eingriffsbehörde gegen den Willen von Eltern und Minderjährigen zu handeln. Das Jugendamt war eine Instanz, mit der sich trefflich Drohen ließ. Allein, geholfen hat es nicht.”

13.

“Auch in der Justiz ist es hinreichend belegt, dass eine Generalprävention durch Strafandrohung ein frommer Wunsch aber nicht Realität ist.”

14.

“Ein weiteres Argument zur Durchsetzung der geschlossenen Heimerziehung ist, dass die Kinder und Jugendlichen selbst geschützt werden sollen, geschützt vor sich selbst und geschützt vor dem Zugriff oder der Verletzung durch andere. Diese Argumentation ist nachvollziehbar, jedoch nicht stichhaltig: […] Die Wirklichkeit zeigt, dass dies jedoch mit den Mitteln freiheitsbeschränkender Maßnahmen nicht gelingt. Klaus Schmidt […] bis 1980 Leiter des geschlossenen Mädchenheims Feuerbergstraße, berichtet von einem überdurchschnittlichen Aggressionspotential der Mädchen in den geschlossenen Gruppen. […] Fast wöchentlich kam es zu autoaggressiven Handlungen. Die Mädchen schnitten sich die Handgelenke auf, versuchten sich zu verstümmeln oder vom Dach der Einrichtung zu springen. Dies alles in einem Umfang, der weit über dem vergleichbarer Handlungen in nicht geschlossenen Einrichtungen lag.”

15.

“Bleibt noch das Argument, man müsste die Kinder und Jugendlichen vor den Missbrauchern, den Päderasten, den Freiern und den Gewalttätern schützen. Dies dadurch tun zu wollen, dass man die Kinder einsperrt, bedeutet doch letztendlich die totale Umkehrung vom bisherigen Prinzips der Bestrafung der Täter hin zur Bestrafung der Opfer.”

16.

“Es ist auch festzustellen, dass mit freiheitsentziehenden Maßnahmen keine dauerhafte Abhilfe des Problems möglich ist, weil durch Freiheitsentziehung für die jungen Menschen keine neue Perspektiven entstehen, sondern allenfalls Anpassung für die Zeit des Einschlusses. Wegschließen von Kindern und Jugendlichen schafft keine soziale Integration sondern gesellschaftlich Ausgrenzung.”

17.

“Es ist darüber hinaus festzustellen, dass die Hoffnungen an die geschlossene Unterbringung im Rahmen der Jugendhilfe sich nicht auf gesicherte Erkenntnisse berufen können sondern gespeist werden von Alltagstheorien sowie der Hilflosigkeit und Verzweiflung gescheiterter Helfer.”

18.

“Eine der wichtigsten Erkenntnisse im Umgang mit Kindern und Jugendlichen ist, dass es keine Patentrezepte gibt.”

19.

“Dies meint, dass es möglichst keine Spezialeinrichtungen für besondere Kinder geben sollte. Die Realität hat gezeigt, dass Spezialeinrichtungen immer auch Spezialzuständigkeiten für sich reklamieren und dazu führen, dass von den “normalen” Einrichtungen Kinder mit schwierigen Problemlagen zu den Spezialeinrichtungen weg definiert werden[…].”

20.

Auch unter optimalen Bedingungen werden wir das Anliegen einiger nicht erfüllen können, die erwarten, dass ein unerwünschtes Verhalten von heute auf morgen abgestellt wird. So funktioniert Erziehung nicht. Hinter solchen Anliegen verbirgt sich ein mechanistisches Verständnis von Erziehung. Wenn oben das richtige hineinkommt, soll unten ein braves Kind herauskommen. Wer so denkt, kommt natürlich zu der Einschätzung, dass im Rahmen geschlossener Unterbringung der erzieherische Input optimiert werden kann.”

21.

Auch wenn die Jugendhilfe sich immer wieder selbstkritisch zu fragen hat, ob sie wirklich alles getan hat, was nach den Regeln der Kunst zu tun ist, bleibt es eine Wahrheit, dass die Ursachen für viele Probleme außerhalb des unmittelbaren Einflussbereichs sozialpädagogisch Handelnder liegt. Jugendhilfe hat hier den Auftrag, sich kräftig und lautstark einzumischen, kann jedoch nicht die Verantwortung für alle Übel dieser Welt übernehmen […].”

Alles Klar?

Dann mal los: Mischen wir uns ein, kräftig und lautstark

Halt Stopp, da war doch noch was –

Wer bitte ist nun der namenhafte Vertreter der Hamburger Jugendhilfe, den der ROTSTIFT hier so ausführlich zitiert hat?

Alle Passagen sind Zitate aus dem Referat “Wegsperren als Lösung”, gehalten von Wolfgang Lerche auf dem Deutschen Jugendgerichtstag im September 1995.

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