Als sehr problematisch muss der … laut werdende Ruf nach »geschlossener Unterbringung« betrachtet werden

Im Mai 2012 legte Robert Fuchs, im Auftrag des Arbeitskreises zur Aufarbeitung
der Heimerziehung im Land Bremen (Hrsg.), die ganz unten downloadbare Dokumentation vor: »Und keiner hat sich gekümmert!« Dokumentation zur Geschichte der Bremer Heimerziehung 1945 – 1975 vor.

Zu den “Denkfiguren der Heimerziehung in der Nachkriegszeit und den nachfolgenden Jahrzehnten” heißt es in der Dokumentation:

Lange Traditionslinien im Denken über Hilfsbedürftigkeit, Gefährdung und Verwahrlosung bestimmten wesentliche Strukturen und Denkfiguren der Heimerziehung in der Nachkriegszeit und den nachfolgenden Jahrzehnten. Entscheidenden strukturellen Einfluss gewann die schon jahrhundertealte Trennung in Waisen- und Armenkinderversorgung einerseits und der Umgang mit Jugendlichen, die der Gesellschaft als gefährdet und verwahrlost galten, andererseits.

Die Differenzierung zwischen Waisenhäusern und Kinderheimen auf der einen Seite und Rettungshäusern, Arbeitserziehungsanstalten und – im 20. Jahrhundert – Zwangserziehungs- beziehungsweise Fürsorgeerziehungsanstalten blieb auch in den Nachkriegsjahrzehnten weiter bestehen.

Eine zweite Traditionslinie bezog sich auf die Geschlechtertrennung. Mit ihr verbunden war die unterschiedliche Betrachtung weiblicher und männlicher Gefährdungserscheinungen. Bei den Frauen und Mädchen waren dies vor allem sanktionierte gesellschaftliche Verstöße gegen die Sexualmoral und gegen Familiennormen und bei den Jungen und Männern insbesondere Verstöße gegen Eigentums- und andere staatspolitische Ordnungsnormen. Damit waren wiederum unterschiedliche Erziehungsziele und -praktiken verbunden. Für die Mädchen bedeutete dies die Vorbereitung auf Ehe, Mutterschaft und dienende Tätigkeiten. Für Jungen war es die Einübung von Gehorsam, Unterordnung und Anpassung.

Ein dritter, in der Weimarer Republik angelegter und im Nationalsozialismus pervertierter, Traditionsstrang bildete das ›Sichten und Sieben‹ von Kindern und Jugendlichen. Sie wurden in Kategorien wie gutwillig und böswillig, erziehbar, schwer erziehbar und nicht mehr erziehbar, nach psychiatrisch-klinischen Kriterien besserungsfähig oder familienfähig und heimerziehungsbe­dürftig vorsortiert. Auch dieser Strang überdauerte, in jeweils modernerer Form von Differenzierung, die Nachkriegsjahrzehnte.

Den verschiedenen Strängen entsprachen auch die rechtliche Ausgestaltung und der in den Lehrbüchern evangelischer, katholischer und bürgerlicher Provenienz niedergelegte Kanon von Erziehungsnormen für Heimkinder. Die Gesetzgebung für den Waisenstrang orientierte sich, letztlich bis zum Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (1990/1991), an Prinzipien der Armenversorgung und des Kinderschutzes und wurde erst seit den 1960er Jahren allmählich mit dem Gedanken des Kindeswohls verbunden. Das Recht im Fürsorgeerziehungsstrang blieb an seine Herkunft aus dem Strafrecht gebunden und zähmte diesen Charakter nur durch Rechtsstaatlichkeit gewährende Verfahrensregelungen.

Die Erziehungsnormen für Kinder und Jugendliche orientierten sich bis in die 1960er Jahre an obrigkeitsstaatlichen Normen der Unterwerfung unter Autoritäten, das heißt, an Gehorsams- und Ordnungstugenden. In konfessionellen Heimen herrschte in der Erziehungspraxis zusätzlich, rigider als in den zeitgenössischen theologischen Reflexionen, noch lange ein autoritäres Gottesbild. Einem »liebenden Gott« wurde erst in den späteren 1960er Jahren nach und nach Platz in der konfessionellen Heim­erziehung eingeräumt.” (S. 113)

Warnende Abschlussworte in der Schlussbemerkung der Dokumentation:

“Als sehr problematisch muss – zumal die Erfahrungen gezeigt haben, wie wenig wirkungsvoll der Einsatz dieser Form der Jugendhilfe ist – ferner der phasenweise nicht nur im politischen Raum immer wieder laut werdende Ruf nach »geschlossener Unterbringung« betrachtet werden. Auch wenn es, wie im historischen Teil dieser Dokumentation dargestellt, im Land Bremen selbst seit langer Zeit keine geschlossenen Einrichtungen mehr gibt, wird – in sehr wenigen Einzelfällen – seitens des Jugendamtes Bremen auch bis heute keine Alternative zu einer (halb-)geschlossenen Unterbringung gesehen. Das Jugendamt Bremerhaven hat – auch auf Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des Jugendhilfeausschusses – durch fallspezifische Hilfe­konzepte von geschlossenen Maßnahmen insgesamt Abstand genommen.” (S. 122)

Dokumentation “Bremer Heimerziehung 1945-1975”

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