Für eine inklusive und subjektorientierte Kinder- und Jugendhilfe in Thüringen – gegen freiheitsentziehende und sonstige Zwangsmaßnahmen (29.10.2019)

Unter der Federführung des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS; Referat 4 3 Heimaufsicht, erzieherische Hilfen) wurde in Bezug auf den LJHA-Beschluss 120/14 Nr. 3 eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, ein „Strategiepapier für den Aus- und Aufbau spezialisierter Angebotsformen für Kinder und Jugendliche mit besonderen erzieherischen Bedarfen“ zu erarbeiten. In dem Zusammenhang wurden folgende fünf Einrichtungsspezifika erörtert:

  • Eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit freiheitsentziehenden Maßnahmen
  • Einrichtung(en)/Angebot(e) für sog. „Systemsprenger“ (ab 14 Jahre, flexible niedrigschwellige Angebote, z. B. sog. „Bauwagenprojekte“ etc., stadtnahe Angebote)
  • Einrichtung(en) für Kinder/Jugendliche mit stark sexualisiertem Verhalten (…)
  • Intensivtherapeutische Angebote für stark verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche
  • Einrichtung(en) für Kinder von 0-6 Jahre (Einrichtungen schon in Planung… eher reizarme Gegend, ggf. geschütztes Angebot).

Auf dieser Grundlage diskutieren das TMBJS und der LJHA Thüringen fachliche Rahmenbedingungen für den Betrieb derartiger Angebote und Einrichtungen in Thüringen zu schaffen.

Mit diesem Papier möchten wir, die Unterzeichner*innen, unsere Position einbringen und Stellung hinsichtlich der Wahrung der Kinderrechte beziehen.

(Diese Stellungnahme steht hier als pdf Datei incl. Fußnoten und Quellenangaben zum Download zur Verfügung)

Vorweg sei geschickt, dass wir sehen, wie die Jugendhilfe unter Druck steht und dass es irritierende Situationen gibt, die hoch komplex sind und sowohl die beteiligten Kinder/Jugendlichen und Familien als auch die beteiligten Helfer*innen an ihre Grenzen bringen. In deren Verlauf fühlen sich letztlich alle Beteiligten (zeitweilig) ohnmächtig und hilflos oder gar wütend und verletzt. In der Regel – das zeigen empirisch-rekonstruktiv angelegte Forschungen (vgl. Menk et al. 2013; Cinkl 2017) – sind solche Situationen das Ergebnis vorab fehlgelaufener Interaktionen zwischen Angehörigen des Hilfesystems und den Betroffenen (vgl. Bolz et al. 2019) oder mangelhafter Hilfeplanung. Auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass unter stark belastenden und belasteten Arbeitssituationen im ASD sich ein ‘trial and error‘ Verfahren durchsetzt, in dem nicht die ‘geeignete‘, sondern die ‘schnell erreichbare‘ Hilfe eingesetzt wird. Solche Effekte lassen sich vermeiden, wenn und indem bessere ‘Passungsverhältnisse‘ zwischen Betroffenen und Hilfsangeboten gesucht und gefunden werden (Rätz-Heinisch 2005; Hußmann 2011).

Eine strategische Ausrichtung in Richtung Spezialisierung von Einrichtungen und Angeboten stellt dagegen u. E. keine zeitgemäße Reaktionsweise dar, sondern wiederholt vielmehr das, was sich seit Beginn der professionalisierten Kinder- und Jugendhilfe nachzeichnen lässt. Auffällig ist hier nicht nur, dass „die Annahme einer ‘Unerziehbarkeit‘/‘Persönlichkeitsstörung‘ bzw. ‘Unerreichbarkeit‘ … immer wieder aufkommt, sondern auch die Vorschläge, welche institutionellen Konsequenzen zu ziehen seien … eine verblüffende Strukturanalogie über die letzten anderthalb Jahrhunderte hinweg“ zeigen. Es gelte „‘unerziehbare Jugendliche‘ an gesonderten Orten unterzubringen“ (Oelkers et al 2013,161 FN2). Immer dann, wenn Helfer*innen an ihre Grenzen kommen, wird der Wunsch und der Ruf nach spezialisierten Einrichtungen geäußert, die vermeintlich am besten (oder jedenfalls besser als die je eigene Einrichtung) geeignet wären, auf ‘solche speziellen Kinder‘ oder ‘besondere erzieherische Bedarfe‘ zu reagieren. Dieses ist aber u. E. ein Weg, der nachgewiesenermaßen in eine Sackgasse und zu (unbeabsichtigten) nicht wünschbaren Nebenfolgen führt.

Wir wissen, dass spezialisierte Einrichtungen zu Phänomenen wie „verlegen und abschieben“ und damit zu „Jugendhilfekarrieren“ beitragen. Je spezialisierter eine Einrichtung, umso mehr Ausschlusskriterien können aus der Spezialisierung heraus begründet werden und umso stärker wirkt die Tendenz, Kinder und Jugendliche so zu beschreiben – d.h. so defizitär und z.T. diskriminierend beschreiben zu müssen –, dass sie zum hochspezialisierten und hochselektiven Einrichtungsprofil passen.

Unter der Chiffre Spezialisierung wird im Thüringer Papier zudem die Geschlossene Unterbringung (GU) bzw. werden moderner: „freiheitsentziehende Maßnahmen“ als ein „Einrichtungstyp“ neben anderen spezialisierten Einrichtungen verhandelt. Ungeachtet der Tatsache, dass Einrichtungen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen kein Einrichtungstyp wie andere sind, wurde bislang begründet von solchen Einrichtungen abgesehen: In dem
Beschluss 120/14 spricht sich der LJHA aus „pädagogischen und gesellschaftspolitischen Erwägungen“ heraus zu Recht gegen GU aus.

Die öffentlich gewordenen Skandale zur Haasenburg, aber auch von offenen, sog. intensivpädagogischen Einrichtungen (z.B. Friesenhof, zuletzt „IPP Neustart“ in Jänischwalde – vgl. TAZ vom 21./22.9. und 25.9.), zeigen deutlich, wie in Einrichtungen, die auf externer oder auch interner Geschlossenheit oder Belohnungs- und Bestrafungssystemen sowie Zwang basieren, Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen (bewusst) ignoriert werden, – auch wenn dies vorgeblich zum Wohle des Kindes geschieht. Damit werden Erfahrungen für die betroffenen Kinder wahrscheinlicher, die Missachtung, Grenzverletzungen und nicht zuletzt Gewalt beinhalten können. In diesem Kontext ist nicht oft genug daran zu erinnern, dass es die Strukturen und Konzepte sind, die solche Missachtungen eben grundsätzlich ermöglichen. Auch wenn im besten Fall sehr gut ausgebildete, hochmotivierte und emphatische Fachkräfte in diesen Einrichtungen arbeiten, bleiben solche Strukturen nicht ohne Folgen für ihr Handeln. Es war und ist deshalb sinnvoll und richtig, auf solche Einrichtungen freiheitsentziehenden Charakters weiterhin zu verzichten und auch intensiv-pädagogische oder intensiv-therapeutische Einrichtungen und Maßnahmen zurückzufahren.

Bisher gibt es in Thüringen keine Einrichtung, die Kinder und Jugendliche im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe geschlossen unterbringt. Dieses soll sich im Frühjahr 2020 ändern; das ökumenische Hainich Klinikum plant die Eröffnung einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit freiheitsentziehenden Maßnahmen (geplante Kapazität: 2×7 Plätze). Woraus sich dieser angebliche Bedarf ergibt, wird im Übrigen ebenso wenig dargelegt wie der Bedarf an den anderen hochspezialisiert ausgebauten Plätzen.

Neuere und ältere Studien zur GU (Hoops/Permien 2006; jüngst Menk et al. 2013, 58 f.) zeigen, dass die Jugendlichen, die geschlossen untergebracht werden, sich bezüglich biographischer Belastungen und/oder „Auffälligkeiten“/„Delinquenz“ nicht von solchen in offenen Gruppen unterscheiden. „Entscheidungen für freiheitsentziehende Maßnahmen scheinen also hochgradig von Kontingenzen, blinden Flecken, Etikettierungsprozessen, politischem Klima, persönlichen Erfahrungen der EntscheiderInnen, dem Leistungsprofil und -willen regional vorhandener Jugendhilfe etc. abzuhängen und erscheinen oft als
‚Negativindikation‘ in dem Sinne, dass man nicht weiß, was man mit der oder dem Jugendlichen angesichts hohen erzieherischen Bedarfs machen soll“ (AG der IGfH 2013:54). Dies bedeutet nichts anderes als vorhandene Unzulänglichkeiten des Jugendhilfesystems zulasten der Betroffenen aufzulösen, was sicherlich nicht im besten Interesse des Kindes(UN-KRK) ist.

Spätestens an dieser Stelle ist auch an das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung zu erinnern, wobei der Gewaltbegriff des § 1631 Abs.2 BGB explizit auch „entwürdigende Maßnahmen“ miteinbezieht und folglich gewaltfreie Erziehung den Verzicht auf ebensolche Maßnahmen umfasst (vgl. Häbel 2016, 2019). Dieses Recht setzt jeglichem erzieherischen Handeln Grenzen und beschränkt sich nicht auf den privaten Bereich.
Wir fordern daher, Kinder und Jugendliche weder in Thüringen noch anderswo im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe geschlossen unterzubringen und auch keinen Einrichtungen und Maßnahmen eine Betriebserlaubnis zu erteilen, die dies ‘fakultativ‘ oder wie auch immer ‘gestuft‘ konzeptionell vorsehen.

Statt die Ressourcen in die Finanzierung teurer GU-Plätze und die Errichtung von Spezialeinrichtungen zu investieren, lohnt es sich, bestehende Einrichtungen und engagierte Fachkräfte so zu unterstützen und zu finanzieren, dass sie fachlich gute Arbeit machen können und es sich (auch finanziell) leisten können, individuelle, situationsbezogene Lösungen in sich als schwierig darstellenden Konstellationen – ggf. auch trägerübergreifend – zu entwickeln, wenn vorhandene Angebote nicht passen.

Anstelle einer strategischen Ausrichtung, die spezielle Einrichtungstypen welcher Art auch immer vorhalten will, wäre eine zeitgemäße Lösung, Kooperationsformen/-modelle freier Träger und öffentlicher Träger zu befördern oder zu implementieren, die es erlauben, unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten im Rahmen der individuellen Hilfeplanung prozesshaft individuelle Hilfen zu entwickeln. Dass dieses auch in Thüringen möglich ist und in Einzelfällen bereits passiert, bestätigen Einrichtungsleiterinnen und Jugendamtskolleginnen gleichermaßen. Dass diese Einzelfalllösungen aufwendig sind, Geld, Zeit und Kraft kosten – und auch das Risiko des Scheiterns bergen, ist unbestritten. Ebenso unbestritten sind Erkenntnisse aus der Forschung (Menk et al. 2013), die zeigen, dass sich „kaum Hinweise darauf finden“ (lassen), dass „durch die geschlossene Unterbringung eine positive Wendung in lebens- und hilfegeschichtlichen Verläufen erreicht werden konnte“ (S. 286). GU hat bestenfalls nicht geschadet, bleibt zumeist nur eine Episode (vgl. zusammenfassend S. 278 ff.) und scheitert in den meisten Fällen. Mit anderen Worten: auch hier ist das Moment des Scheiterns – wie in allen pädagogischen Situationen – inhärent. Mehr noch: In keinem Hilfesegment ist die Abbruchrate höher (Ziegler 2017: 33).

Wie die Kinder- und Jugendhilfe mit schwierigen Situationen anders umgehen könnte, zeigen z.B. die Erfahrungen der Hamburger Kolleginnen. Seit fünf Jahren unterstützt die „Koordinierungsstelle individuelle Hilfen“ sowie ein Trägerverbund aus freien Trägern der Jugendhilfe Hamburgs ASD-Fachkräfte in der Lösungssuche bei schwierigen Fallverläufen. Die Koordinierungsstelle ist beim Paritätischen Wohlfahrtsverband angesiedelt und umfasst anderthalb Stellen. „Ausgangslage für das Projekt war, dass es eine kleine Gruppe von Jugendlichen gab und gibt, für die es keine oder nur nach monatelangem Suchen adäquate stationäre Hilfen zu geben schien. Besonders brisant für die Politik war dabei auch, dass diese ‚Fälle‘ für die Presse ‚ein gefundenes‘ Fressen waren, da sie entsprechende Schlagzeilen versprachen“ (Peters i.E.). Seit Bestehen des Projektes haben die Hamburger ASD-Kolleginnen in ca. 100 HzE-Fällen die Koordinierungsstelle um Unterstützung gebeten und es wurden gemeinsam Lösungen entwickelt. Die Koordinierungsstelle und der Trägerverbund als Partner berät und unterstützt die ASD-Kolleg*innen in der „Entwicklung und Umsetzung individueller und tragfähiger Hilfen für Kinder und Jugendliche mit komplexem Hilfebedarf“ (ebd.).

Ob man die Ausgangsbeschreibung, dass es eine „kleine Gruppe von Jugendlichen…gibt“, teilt oder nicht teilt, bleibt als Fakt – und das ist für die als ‘schwierig‘ Gekennzeichneten hilfreich –, dass subjektorientierte Hilfen und individuell akzeptable ‘Passungen‘ gefunden wurden. Denn auch wenn sich die Koordinierungsstelle explizit nicht als GU- Verhinderungsstelle versteht, zeigt ihre Bilanz nach fünf Jahren, dass mithilfe flexibler Hilfesettings GU weitestgehend verhindert wurde (TAZ vom 16.06.2019).

Es gibt also Modelle und Erfahrungen, die Alternativen anbieten – sowohl vor Ort in Thüringen als auch an anderen Orten der Bundesrepublik.

Wir fordern alle Entscheidungsträger daher auf, an der bereits 2014 im Landesjugendhilfeausschuss formulierten Position festzuhalten, wonach auch angesichts des Umstandes, dass freiheitsentziehende Maßnahmen/ GU rechtlich derzeit möglich wären, diese aus „pädagogischen und gesellschaftspolitischen Erwägungen“ fachlich auszuschließen sind. Es gibt hierzu keine neuen Erkenntnisse, die begründen könnten, von dieser Position abzuweichen. Um für adäquate Hilfen in ‘schwierigen Situationen‘ Vorsorge zu treffen, bedarf es neuer Wege jenseits des Rufs nach ‘Mehr Desselben‘ oder mehr des ‘Alten‘. Dafür braucht es Mut, politischen Willen und eine andere Steuerung der finanziellen Ausstattung, weg von spezialisierten Angeboten, hin zu individueller Förderung.

Mitzeichnende Personen
Prof. Friedhelm Peters, EHS Dresden
Univ.-Prof. Dr. Birgit Bütow, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Universität Salzburg
Prof. Dr. Tilman Lutz, Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg
Prof.(em.) Dr. Timm Kunstreich, Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie Hamburg
Norman Böttcher, B.A. Soziale Arbeit, M.A. Gesellschaftstheorie, Nordhausen & Ludwigshafen
Manfred May, Benshausen
Dr. Agnés Arp, Jena
Univ. Prof. (i.R.) Dr. Michael Winkler, Nürnberg
Prof.’in Hannelore Häbel, Tübingen
Dr. Manfred Kappeler, Prof. i.R. (Technische Universität Berlin)
Norbert Struck, Berlin

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