Ein in den Medien jahrelang gefeierter Buchautor und Kinderpsychiater, Michael Winterhoff, hat – fast unbemerkt von der Öffentlichkeit – ein Jugendhilfe- und Jugendpsychiatrie-System gefördert, das mit überwunden geglaubten Methoden Kinder jahrelang medikamentös ruhiggestellt und einem repressiven pädagogischen System ausgesetzt hat.
Erst durch die Recherchen von ARD, WDR und Spiegel wurde darüber kritisch berichtet. Erstmals konnten sich einige Herangewachsene zur Wehr setzen. Derzeit steht der Kinderpsychiater als Angeklagter vor dem Bonner Landgericht.
Charlotte Köttgen hat die bekannt gewordenen Fakten, die gestützt wurden durch ein Gutachten an dem C. Schrapper beteiligt war, in folgendem Beitrag zusammengefasst und bewertet.
Charlotte Köttgen (August 2025)
„Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ ist der Titel des Buches, das der Bestseller-Autor Michael Winterhoff[1] 2008 publiziert hat. Winterhoff war ein gefragter Gutachter für die Jugendämter, er behandelte junge Patient*innen, deren Eltern (bzw. Sorgeberechtigten), beriet Heime. Er war Gast in namhaften Talkshows[2], dort konnte er als gefeierter Sprecher wie ein Superstar seine Haltung gegenüber Kindern und seine pädagogischen Konzepte populär machen. Er hielt Vorträge, zu denen die Massen strömten und bot Fortbildungen für Fachleute an.
Das Weltbild und die florierende Praxis des Dr. Winterhoff
Große Teile der deutschen Jugend seien gestörte Persönlichkeiten, die lebensunfähig, egoistisch und nur im Durchsetzen eigener Wünsche stark seien, die Schuld trügen die Eltern. Diese hätten es versäumt, sich abzugrenzen, seien nicht imstande, sich Respekt zu verschaffen und klare Hierarchien durchzusetzen. Viele Kinder seien kleine Tyrann*innen, so sein Urteil, wie schon der erfolgreiche Buchtitel anklingen lässt. Nichtachtung, Strafen und Unterwerfung hält er für die geeigneten Methoden im Umgang mit seinen kleinen Patient*innen (Spiegel, 2021).[3]
Die Behandlungsmethoden und die pädagogischen Konzepte in den Heimen unter der Anleitung des Psychiaters und die Mitwirkung der Jugendhilfe gerieten in das Blickfeld einer breiteren Fachöffentlichkeit, als WDR/ARD und Spiegel im Jahr 2021 ihre Recherchen veröffentlichten.[4]
Winterhoffs Diagnosen wie „narzisstische Störung, symbiotische Beziehung“ (in der Regel „zur Mutter“) wurden demnach in minutenschnellen Untersuchungen gestellt. Meistens, ohne mit den Kindern direkt gesprochen zu haben. Die Schlussfolgerung aus diesen gleichlautenden Diagnosen: Wegen der mangelnden Grenzziehung von Seiten der Eltern könnten die Kinder sich nicht entwickeln und verharrten so auf der Stufe von 3-Jährigen.
Er empfiehlt auf Grund dieser Einschätzung, mit und ohne den Willen der Eltern oder der Betreuer*innen, einen Sorgerechtsentzug einzuleiten, dem die Einweisung in ein System von Heimen, z.B. den „heilpädagogisch orientierten“ Wohngruppen der HPW Dierdorf, folgte. Es gab ein Netz von Heimen, das eng mit dem Psychiater kooperierte. In den Heimen wurde von ihm das Psychopharmakon Pipamperon / Dipiperon verordnet. Obwohl dieses Mittel nur bei akuten Erregungszuständen und dann auch nur kurz für Kinder zugelassen ist, bekamen es auch die noch 3- bis 4-jährigen Kinder zum Teil jahrelang. Die ehemaligen Heimkinder schildern später neben der müden Apathie und einer medikamentös verursachten Hilflosigkeit anhaltende Symptome wie unwillkürliche Zuckungen, Zittern u.a., die zu einigen der bekannten Folge- und Nebenwirkungen der Psychopharmaka gehören (siehe Beipackzettel). Bei Aufmüpfigkeit wurde ihnen die Dosis erhöht. Manche konnten dem Unterricht wegen der permanent erzeugten Schläfrigkeit nicht folgen.
Es handelte sich um Kinder aus sozial und familiär schwierigen Verhältnissen. Die Kinder stammen aus Heimen, aus Familien, in denen sie teilweise Vernachlässigung und auch Misshandlungen erlebt hatten, sie waren Opfer von Suchtproblemen der Eltern, Kinder von überforderten, alleinerziehenden Müttern und/oder Kinder, die eine vorübergehende Notunterkunft benötigten.
Es waren also Kinder aus Familien, die dringend Hilfen für ihr Aufwachsen benötigten, Hilfen, die ihnen gesetzlich gemäß SGB VIII zustehen.
Das pädagogische Konzept des M. Winterhoff basiert auf seiner schon beschriebenen Grundeinstellung: Die von ihm als „lebensunfähig” und „egoistisch“ beschriebenen Kinder erfahren die Herausnahme aus dem Elternhaus und repressive Heimerziehung, die einhergeht mit Essensentzug, körperlicher Gewalt, Isolation, Strafen, zwangsweise verabreichten Medikamenten und Nichtachtung ihrer persönlichen Bedürfnisse, insbesondere gilt ein strenges Verbot, eine Beziehung mit den Kindern aufzunehmen.
Erst durch die kritische Berichterstattung von ARD und Spiegel[5] fühlten sich ehemalige Betroffene als Opfer dieser Behandlung ermutigt, sich zu wehren. Wie viele Kinder in diesem System „erzogen und behandelt“ wurden, ist unklar. Die auf staatsanwaltliche Ermittlungen hin von der Polizei beschlagnahmten Akten beliefen sich auf 3.000, es wurden immerhin 15 Heime durchsucht.
Es kam zu einer Sammelklage, und in 36 Fällen wurde Anklage erhoben.[6] Michael Winterhoff steht derzeit als Angeklagter vor dem Bonner Landgericht.
Die Ankläger*innen sind seine ehemaligen Patient*innen, die er in zahlreiche Heime vermittelt hat. Dort wurden sie jahrelang mit Psychopharmaka ruhiggestellt.[7]
Beurteilung:
Eine mit Zwang und Repression einhergehende Kooperation zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie findet immer wieder Nachahmer*innen. Seit Jahrzehnten ist zu beobachten, wie bei den in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen schwierigen Einzelfällen von Seiten politisch Verantwortlicher Druck ausgeübt wird und der Ruf nach Einsperren und Repression, unterstützt durch Medien und Psychiatrie, lauter wird, insbesondere vor Wahlen. Dann sollen neue Jugendhilfeeinrichtungen das Problem lösen oder Jugendhilfe durch die Jugendpsychiatrie „gestärkt“ werden – in Hamburg etwa im Rahmen des geplanten Baus des Heimes „Casa Luna“ am Klotzenmoorstieg im Stadtteil Groß Borstel. Aber wie?
So kommen solche „Systeme“, wie das des Herrn Dr. Winterhoff, vielen wie gerufen. Ähnlich funktionierten auch das System der Haasenburg in Brandenburg und manche andere, die gescheitert sind.
Betritt ein*e Doktor*in der Psychiatrie die Bühne, der*die die Lösung der Probleme vollmundig verspricht, scheinen in Jahren erkämpfte Leitsätze in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie vergessen.
Winterhoff, der gefeierte Medien-Psychiater, bot überdies den Jugendhilfefachleuten die Chance, sich hinter der „Allmacht“ des Arztes zu verstecken. Dieses Angebot wurde erschreckend oft angenommen, und so konnte ein menschenverachtendes System jahrelang aufrecht erhalten werden. Vertreter*innen der Jugendämter begründeten in diesem System ihr unfachliches Handeln damit, dass ein Facharzt für Psychiatrie doch wissen müsse, was gut sei für die Kinder.
Winterhoffs Agieren basiert auf einem diskriminierend-zynischen Verständnis, das pauschal Eltern und Kinder entwertet und allen fachlichen Jugendhilfe-Standards entgegenläuft.
Im Auftrag des Bonner Landgerichts ist ein Gutachten der Universität Rostock, des Instituts sozialer Arbeit (ISA) und des International Centre For Social Legal Studies erstellt worden, das sich kritisch mit der Praxis des Herrn Dr. Winterhoff auseinandersetzt. Behandelt wird darin ausführlich, wie eine gute Jugendhilfepraxis sein soll; pädagogisch, fachlich, gemäß Rechtslage. Die Gutachter*innen beschreiben diametral andere Ziele und Leitideen, benennen Rechtsansprüche, beschreiben gelingendes pädagogisches Handeln, das in krassem Gegensatz zu dem steht, was im System Winterhoff praktiziert wird.[8]
Es bleibt abzuwarten, wie dieser Prozess weitergeht. Möglicherweise werden die geschickteren Anwält*innen diesen Fall in ihrem Sinne beeinflussen. So schreibt die SZ am 02.06.25 in Bezug auf das Prozessgeschehen in Bonn zum Fall Winterhoff: „Das Gericht ist mit dem Prozess offensichtlich überfordert.“
Der Fall ist auch für Hamburg von großem Interesse, weil eine enge Zusammenarbeit der Jugendhilfe mit der Jugendpsychiatrie in einer angestrebten neuen Einrichtung geplant ist, für diejenigen „Fälle“, die die Institutionen an ihre Grenzen bringen.
Fazit:
Die Herausnahme der Kinder aus ihren Familien in frühen Jahren, ihre jahrelange medikamentöse Ruhigstellung, eine fast ausschließlich repressive Erziehung ohne eine Förderung der Persönlichkeit und Unterstützung der oft überforderten Elternhäuser perpetuiert erfahrungsgemäß eben die Retardierung, die angeblich behandelt wird. Eine positive Entwicklung der Kinder kann ohne emotionale, kognitive und soziale Förderung nicht gelingen. Anregungsarme, repressive Unterbringungen führen stattdessen zu Deprivation, Hospitalisierung und artifizieller Verblödung (bekannt seit den Untersuchungen der Enquete-Kommission zur Psychiatrie, 1975).
Eine medikamentöse Ruhigstellung kann in einer akuten Krise noch angemessen sein. Langfristig sind die psychopharmakologischen Medikamente Dipiperon u.a. jedoch aus guten Gründen nicht für die Behandlung von Kindern zugelassen.
Sozial und familiär belastete Kinder haben ein Recht auf langfristige Lebenshilfen für ein besseres Aufwachsen, Hilfen, die auch die Eltern und das soziale Lebensumfeld einbeziehen, insbesondere diejenigen, bei denen die Eltern ganz ausfallen.[9]
Der Erfolg des Systems Winterhoff zeigt, dass die als überwunden geglaubten repressiven Rezepte nach wie vor in den Köpfen vorherrschen – in der Politik, bei vielen Fachleuten sowie bei den „normalen Bürgern”. Die Erkenntnisse gelingender Hilfeplanung, in dem o.g. Gutachten ausführlich beschrieben[10], konnten wieder einmal nicht verhindern, dass (viel zu viele) Kinder mit Hilfe eines Psychiaters und der Jugendämter Repressionen ausgesetzt wurden, entmündigende demütigende Pädagogik erlebten und psycho-physisch geschädigt wurden. Nur ganz wenige Mutige wagten es, dagegen aufzustehen, Äußerungen der unterversorgten und wenig behüteten Kinder wurden pathologisiert und medikamentös unterdrückt. Den Kindern, die vielfältig Verletzungen ausgesetzt waren, wurde von vorneherein eine Entwicklungsperspektive abgesprochen. Das offenbar lukrative Geschäft für den Psychiater und die Träger wurde durchgezogen, auf Kosten der Kinder.
In den Systemen der (insbesondere der geschlossenen) Heime gibt es, wie schon aus der Historie bekannt, kaum wirksame Kontrolle von außen.
Auch in diesem Fall, wie schon bei den Haasenburg-Heimen, war es die Presse, die auf ein in sich geschlossenes, missbräuchliches System aufmerksam macht. Es ist dringend nötig, dass sich die Beschäftigten in der Jugendhilfe sensibilisieren, organisieren und dazu beitragen, eine solche menschenrechtswidrige Praxis und ihre Grundlagen zu überwinden.
[1] Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. 2008
[2] In Fernseh- und Talkshows von Plasberg, Will, Lanz u.a. trat M. Winterhoff auf. Sein Weltbild fand breite Zustimmung auf Kongressen und bei Vorträgen.
[3] Frauke Hunfeld, Robin Hinsch: Niemand soll erleben, was ich erlebt habe. Der Spiegel. Nr.46, 13.11.2021
[4] Nicole Rosenbach: Schwere Vorwürfe gegen Kinderpsychiater, tagesschau.de, 09.08.2021, https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/kinderpsychiater-winterhoff-101.html; Nike Laurenz: Das System Michael Winterhoff, Spiegel Online, 19.08.2021, https://www.spiegel.de/psychologie/michael-winterhoff-warum-man-dem-kinderpsychiater-sadistische-zuege-attestiert-a-acce6ecb-dde3-4eed-8689-8676ae64a2a8
[5] Nicole Rosenbach: a.a.O.; Nike Laurenz: a.a.O.
[6] Rainer Stadler: Ruhe jetzt, Süddeutsche Zeitung 27.05.2025 S.3, online: www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/michael-winterhoff-prozess-kinderpsychiater-e379602/
[7] Nicole Rosenbach: a.a.O.
[8] Gutachten vom 24.05.2024, vorgelegt vom Institut für soziale Arbeit e.V., C. Schrapper; sozial internationale Centre: T. Meysen, Leon Brandt; Klinik für Psychiatrie und Neurologie im Kindes- und Jugendalter, Universität Rostock: M. Kölch
[9] L. Degener et al: Dressur zur Mündigkeit?. Beltz Juventa 2019
[10] C. Schrapper u.a. 2025: Wie kann Aufwachsen in der Krise gelingen? Verantwortung zwischen Jugendamt, freien Trägern und Kinder und Jugendpsychiatrie im Rahmen der Gesundheitsfürsorge. Gutachten im Auftrag des Gerichtes Bonn. Vorgelegt von: Institut für soziale Arbeit e.V., SOCLES International Centre for Socio-Legal Studies gGmbH, Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter – Universitätsmedizin Rostock. Der Bericht wurde durch die Stadt Bonn als Auftraggeber*in im Kontext der Beratungen im Jugendhilfeausschuss veröffentlicht und ist hier abrufbar: https://www.bonn.sitzung-online.de/public/to020?2–anlagenVoHeaderPanel-attachmentsList-0-attachment-link&TOLFDNR=2065993&SILFDNR=2003029
Zur Autorin:
Dr. med. Charlotte Köttgen; Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, für Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologie. Facharztausbildung im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Erfahrungen zum Thema: „Gruppentherapie junger an Schizophrenie erkrankter Patienten unter Einbeziehung der Eltern“ (vgl. Charlotte Köttgen et al: international journal of family psychiatry, 1984, vol. 5 Nummer 1), Beteiligung am Aufbau einer Jugendpsychiatrischen Station im psychiatrischen Universitätskrankenhaus.
Leiterin des Jugendpsychologischen, – psychiatrischen Dienstes im Landesjugendamt Hamburg von 1984-2003. Seither Mitwirkung in Gremien, Mitarbeit an einem Sozialraumprojekt, im Arbeitskreis Kinder, Jugend und Bildung der Patriotischen Gesellschaft sowie im Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung (AGU). Charlotte Köttgen war etwa 30 Jahre lang Sprecherin des Ausschusses Kinder und Jugend in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V., in dem sie weiterhin aktiv ist.
Bücher (Hrsg.):
- Ausgegrenzt und mittendrin. Jugendliche zwischen Erziehung, Therapie und Strafe, IGfH Verlag 2007, Frankfurt am Main.
- Wenn alle Stricke reißen. Kinder und Jugendliche zwischen Erziehung, Therapie und Strafe, Psychiatrie-Verlag 1998, Köln.
- (mit Ruth Baumann, Inge Grolle, Dieter Kretzer) Arbeitsfähig oder unbrauchbar? Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 1933 am Beispiel Hamburgs, Mabuse-Verlag 1994, Frankfurt am Main
- Aus dem Rahmen fallen. Kinder u. Jugendliche zwischen Erziehung u. Psychiatrie, Psychiatrie-Verlag 1990, Bonn