Charlotte Köttgen: Wegsperren hilft nicht

September 2002 

Solange Armut, Hunger und Unwissenheit nicht beseitigt werden, macht man ein Volk zu Dieben und Räubern. (Pestalozzi)

Einleitung

In jedem Wahlkampf wird das Wegsperren von “kriminellen Kids, Intensivtätern, jugendlichen Gewalttätern” – und wie sie sonst noch verallgemeinernd heißen – zum symbolischen Allheilmittel der Politik. Am 12.12.2001 stirbt ein 19jähriger, gesunder Mann, nach der gewaltsamen Verabreichung von Brechmitteln durch Ärzte. Diese Maßnahme diente der Strafverfolgung, der Mann soll die verschluckten Drogen erbrechen. Die zwangsweise Verabreichung des Brechmittels dient nicht der Heilbehandlung, zu der der ärztliche Eid verpflichtet. Der Brechmitteleinsatz soll den Täter überführen um ihn auszuweisen oder einzusperren. Weshalb aber werden Vergleichbare Methoden bei den steigenden Zahlen an Wirtschafts – Kriminalität, die sich Unterschlagung, Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Bestechung, Filz u.a. leisten und die das Allgemeinwohl empfindlich schädigen, weder gefordert noch angewandt? Die todbringende, ärztlich durchgeführte Gewaltmaßnahme wird damit gerechtfertigt, daß der junge Mann schließlich “ein Dealer” war! Die Würde des Menschen, auch eines Dealers, ist unantastbar, sagt das Grundgesetz. Obwohl die Wiederholung des tödlichen Risikos nicht ausgeschlossen werden kann, die Ärztekammer den sofortigen Stopp des Einsatzes von Brechmitteln verlangt, sollen die Zwangsmaßnahmen in Hamburg dennoch fortgesetzt werden. Die geschürte Angst vor der Jugend wird zu Wahlkampfzwecken regelmäßig benutzt und mißbraucht.

Kriminalitätskurven werden wie an der Börse gehandelt. Das Grauen wird gesteigert….mit sex and crime lassen sich Geschäfte machen (Ostendorf,1998 ). Der Jugendliche, dem sein Vater einen guten Anwalt zur Seite stellen kann, wird nicht in gleicher Weise bestraft.

Ist die Verhältnismäßigkeit der Mittel hier noch gewahrt?

Bedroht der Dealer auf der Straße tatsächlich die innere Sicherheit, wie es täglich suggeriert werden soll?

  • Viele der Kinder und Jugendlichen, die sich prostituieren, Drogen nehmen und dealen sind selbst Gewaltopfer und/oder von Freunden der Familie oder eigenen Angehörigen missbraucht worden. Oft, aber nicht immer, handelt es sich um Kinder der Armut. Viele haben wenig Schutz, aber von früh auf Gewalt und Vernachlässigung erlebt. In selbstzerstörerischer Weise werden auch noch Suchtmittel genommen, um die Erinnerungen zu verdrängen. Ohne Hilfe werden aus manchen Opfern nahtlos Täter. Die zahllosen Freier auf dem sogenannten Babystrich oder Sextouristen, werden kaum wegen Unzucht mit Minderjährigen verfolgt! Der Schaden, den sie anrichten, ist unermeßlich. Sie sind nicht selten biedere Männer oder gar Familienväter. Die Opfer körperlicher und sexueller Gewalt leiden lebenslänglich an den Folgen, dazu gehören: Selbstverletzungen; psychosomatische, neurotische Krankheiten, Sucht, Affektdurchbrüche, Gewalthandlungen.
  • Die Täter sind scheinbar normale Familienangehörige.
  • Der 19jährige Afrikaner ist nicht als Dealer geboren. Er würde vermutlich nicht dealen, hätte er Chancen für einen legalen Broterwerb, der wird ihm hier verwehrt.
  • Die Kriminalität der Wohlstandsbürger, die Nutzer der Prostitution, die Kindesmissbraucher, die Großdealer, Waffenschmuggler in Kriegsgebiete und Geldwäscher, sie werden rechtsstaatlich nicht in gleicher Weise sanktioniert. Ausschlaggebend bei der Sanktionierung seiner Tat, ist die soziale Herkunft des Jugendlichen: “Der Unterprivilegierte wird durch eine schärfere juristische Definition des objektiven Tatbestandes eher zum “Kriminellen, hat S. Hartmann untersucht,” (Hartmann, 1996) . Dies aber untergräbt die öffentliche Moral, weil es die Wertmaßstäbe verschiebt.

Wie sind Gewalt und Delinquenz zu erklären?

“Die Angst der Bevölkerung vor Kriminalität, wie (un-)begründet sie auch sein mag, muss ernst genommen werden.” Deshalb müsse eine gezielte Aufklärungsarbeit über Kriminalität, über deren Ursachen sowie über präventive Maßnahmen und geeignete Reaktionsmöglichkeiten erfolgen, (Jugend-Gerichtstag, 2001). Auch neuere Forschungen bestätigen viele der vorhandenen Erkenntnisse aus früheren Untersuchungen, die den direkten Zusammenhang zwischen sozialen Problemlagen und dem Vorkommen von Gewalt – und Jugend-Delinquenz bestätigt haben (Moser, 1970; Petri, 1975; Rauchfleisch, 1992).
Findet die dringend nötige Aufklärung statt? Während noch vor einigen Jahren deutlich mehr berechtigte Empörung über die sexuelle und körperliche Gewalt an Kindern die Medien beschäftigte, wird jetzt überwiegend von Gewalt durch Jugend geredet. “Besorgnis erregend ist in Wahrheit nicht die Jugend, sondern die Situation, in die sie hinein wächst” schrieb DIE WOCHE noch am 27.6.1997 völlig zu Recht.
Die Gewalt gegen Kinder ist nach dem Gesetz strafbar.
“Je härter die Sanktion, desto größer die Gefahr der Rückfälligkeit. Sanktionseskalation ist kontraproduktiv. Die häufige justielle Praxis des von Mal zu Mal schärferen Zugriffs hat mehr, nicht weniger Kriminalität zur Folge,” so Haas, damals Polizeipräsident in Stuttgart. Er spricht sich vehement gegen die Ausgrenzung durch soziale Spaltung, gegen Abschreckung, schärfere Gesetze und gegen Wegsperren aus (Haas, 1998).

Die Abwendung vieler Jugendlicher von der Schule, und damit von der bürgerlichen Gesellschaft, begann sehr oft nach ersten Ausgrenzungen, dazu kann das Sitzenbleiben in der Schule oder eine Sonderbeschulung gehören, die als Entwertung erlebt wird. Aus seinem Gruppenverband, der Familie, einer Gruppe im Heim u.a. herauszufallen ist für jedes Kind nachhaltig verletzend.

Pisa war nicht die erste Studie, die gezeigt hat, dass das deutsche (Schul-)System hochgradig ungerecht ist. Pisa war ein Schock. Das System der Schule versagte danach – besonders bei den sozial Schwachen.

Die Frage, wie oft und weshalb es zu Kriminalität und auch Gewalthandlungen kommt, wurde mit den Untersuchungen von Pfeiffer noch einmal gestellt und wie folgt beantwortet. Auch hier kam nicht ganz überraschend heraus:

  • 4/5 der Jugendlichen und Heranwachsenden, die durch Zunahme an Jugendgewalt auffallen, gehören sozialen Randgruppen an.
  • Mehr als 3/4 der jungen Gewalttäter weist ein niedriges Bildungsniveau auf, das ihnen im Berufsleben schlechte bis mäßige Perspektiven eröffnet. Solche Jugendlichen empfinden sich als Verlierer. Das Risiko der Entstehung von Jugendgewalt erhöht sich drastisch, wenn drei Faktoren zusammentreffen: Die Erfahrung innerfamilialer Gewalt, gravierende soziale Benachteiligung der Familie, schlechte Zukunftschancen der Jugendlichen auf Grund eines niedrigen Bildungsnivaus. Nach wie vor gilt also, wer soziale Benachteiligungen oder durch seine Eltern massive Schläge und Misshandlungen erlebt hat, wird erheblich häufiger selber gewalttätig, als nicht geschlagene junge Menschen (Pfeiffer, 1997 ).

Die erfolgreiche Integration in Schule und Beruf, mehr soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen familiäre Gewalt sind die besten Mittel gegen Kriminalität, für mehr Sicherheit.

Weshalb hat Hamburg die geschlossenen Heime abgeschafft?

Geschlossene Heime existierten in Hamburg bis 1980.

Auf geschlossene Unterbringung in der Heimerziehung wurde, zeitgleich mit Hessen, seither verzichtet. Seit 1984 nahm Hamburg definitiv keine geschlossenen Unterbringungsplätze in anderen Bundesländern mehr in Anspruch, trotz hartnäckiger gegenläufiger Gerüchte. Grund für die Öffnung war die bekannte Tatsache, dass Orte der Ausgrenzung – dazu zählen geschlossene Heime und die meisten Anstalten – oft genau die Probleme erzeugen, zu deren Abschaffung sie gedacht sind. Darüber gibt es Erfahrungen aus zwei Jahrhunderten, besonders bezogen auf den Strafvollzug (Foucault, 1974 ). Der 1975 veröffentliche Bericht der Enquete-Kommission zur Lage der Psychiatrie bescheinigte den psychiatrischen Anstalten “elende, menschenunwürdige” Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland.

Folgen geschlossener Unterbringungen sind:

Bandenbildung, Induktion von Kriminalitätskarrieren vor und nach der Entlassung, Drogen,- und sexueller Missbrauch, dazu gehören Vergewaltigungen der Schwächsten durch die Stärkeren: Dem geschlossenen System immanent sind Gewaltausübung, die sich fortsetzt, sind aber auch Apathie, Stereotypien, Verblödung; Selbstmorde, die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten. “Anstaltsartefakte”(Ciompi,1980 ).

In geschlossenen Heimen ist weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart Resozialisierung und/oder Erziehung zur Selbständigkeit in Freiheit bei den so genannten “Schwierigsten” überzeugend erreicht worden. Die Methoden zur Bestrafung, Behandlung, Erziehung, Betreuung und Besserung waren im Laufe der Geschichte oft schwer voneinander abzugrenzen, so die übereinstimmende Analyse, Gewalt produziert neue Gewalt, (Goffman, 1977; Foucault, 1969; Dörner,1969; Basaglia,1971; Blasius,1978).

Vor allem ist die viel beschworene Sicherheit der Bevölkerung nicht garantiert. Entweichungen aus geschlossenen Einrichtungen sind häufiger, eine freiwillige Rückkehr selten. Die Flucht aus geschlossenen Einrichtungen ist von selbst- und fremdgefährdenden Handlungen begleitet. Ein geflohener Insasse muss sich Wohnung und Essen mit Gewalt beschaffen. Das vor allem erhöht seine Gefährlichkeit. Einsperren hat Folgen für den Einzelnen, für die Gesellschaft, ohne, dass damit Gewaltbereitschaft und Kriminalität abgebaut würde (Foucault,1974).

Der Slogan: “Die Erziehung im Käfig erzieht zum Leben im Käfig”, dieser Slogan drückte knapp aus, was die Vergangenheit gelehrt hatte. Für viele Jugendliche aus den Randgruppen war die geschlossene Unterbringung die Vorübung für die Karriere als Delinquenter und den “Knast” (v. Wolffersdorff,1996).

Ist Erziehung – weitgehend – ohne Zwang möglich?

Die ab 1980 beschlossene, damals praktizierte und politisch getragene Erziehung ohne Zwang war, wie Reinhold Schone (Schone,1991) mit seiner Untersuchung über die Jahre 1979 – 1989 für Hamburg nachweisen konnte, erfolgreich. Das will heute niemand und wollte auch damals keiner wahrhaben. Anspruch und Wirklichkeit der Heimreform wurden im Auftrag der Freien Hansestadt Hamburg untersucht. Wegen der heftigen Angriffe durch die Presse und Politik lautete die entscheidende Frage:

Sind die vormals geschlossen untergebrachten Jugendlichen durch andere Instanzen – also Jugendstrafvollzug oder eben Jugendpsychiatrie – aufgefangen worden und ist es zu vermehrten Krankheitszuschreibungen oder vermehrter Verlagerung auf die Justiz gekommen?

Für den Untersuchungszeitraum 1979 – 1989 wurden alle Jugendlichen in öffentlicher Erziehung – offen und ohne Zwang – untergebracht, auch jene, bei denen es um Abwendung von Untersuchungshaft ging. Es gab die so genannten Diversionskonzepte, zur Haftvermeidung, dabei handelte es sich um pädagogische, Arbeits- und Beschäftigungsprogramme, statt Strafe. Ziel war eine pädagogische Einflussnahme zwecks besserer Integration (Bittscheidt – Peters,1998 ):

Fallzahlen in stationären Einrichtungen der Heime nahmen in diesem Zeitraum kontinuierlich ab, aber auch die Fallzahlen in den beiden (Jugend)- Psychiatrien, der Untersuchungs-Haft und dem Jugend-Strafvollzug (Schone, 1991).

Einige der Ergebnisse:

  • Die Heimplätze wurden zwischen 1979 und 1989 dramatisch reduziert, die Heime wurden verändert, weniger Institution, mehr Normalität, d.h. ein familienähnliches Zusammenleben mit Profis für Kleinkinder, die aus der Familie heraus müssen, statt anstaltsähnliche Unterbringungen. Ziel war die Erziehung zu mehr Selbstständigkeit. Weitgehender Verzicht auf Verschiebungen und auswärtige Unterbringungen.
  • Weder kam es zu vermehrtem Zugriff durch die Jugendgerichtsbarkeit, noch zu mehr Krankenhauseinweisungen in geschlossene Stationen in und um Hamburg. Auch nicht zu mehr Zuschreibungen durch Diagnosen, wie Hyperaktivität, oppositionelles Verhalten, emotionale und soziale Störungen, wie sie mit dem neuen Diagnoseschlüssel, dem sogenannten ICD -10, (Dilling.H 1991 ) eingeführt wurden.
  • Die Abschaffung der geschlossenen Unterbringung stößt damals vielmehr auf breiten Rückhalt durch die Fachkräfte der Jugendhilfe und der Jugendpsychiatrie in Hamburg. Das Platzangebot in den jugendpsychiatrischen Kliniken wird von beiden Seiten für ausreichend angesehen. Die jugendpsychiatrischen Kliniken in Hamburg fühlen sich nicht als Ausfallbürgen für unbewältigte Krisen der Heimerziehung. Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie kooperieren zum damaligen Zeitpunkt, verglichen mit anderen Bundesländern, auf einem relativ hohen Niveau gegenseitiger Akzeptanz der jeweiligen Fachkompetenz miteinander. Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie sind aufgerufen, ein gemeinsames Krisenkonzept zu entwickeln. 30 – 40% der jugendpsychiatrischen Patienten des Universitätskrankenhauses werden anschließend in der Jugendhilfe betreut. Der Arzt in der Psychiatrie bezeichnet die Klinik deshalb als eine Art Übergangs – Wohnheim für diese Fälle.
  • Durch den Abbau von Heimplätzen konnten frei werdende Gelder in die Qualifizierung der Mitarbeiter der Jugendhilfe u.a. gesteckt werden.
  • Die Kriminalitätszahlen zeigten keinen Anstieg. Repressionen können insgesamt abgebaut werden, (Schone, 1991 ).
  • Auch oder gerade für die Schwierigsten entwickelte sich in Ansätzen eine Art gemeinsamer Versorgungs – Verantwortung.
  • Die Jugendhilfe hatte sich aus dem Status der Hilfsdisziplin, dem Souterrain der Justiz und Medizin, befreit.
  • Sozialpädagogen verstanden sich als Experten und qualifizierte Fachkräfte für schwierige soziale Lebenslagen, aus denen sich andere herauszogen.

Diese Nachuntersuchung zeigte eine in vieler Hinsicht erfolgreiche, deutlich repressionsfreiere Jugendarbeit und eine bessere Kooperation mit den vielfältigen angrenzenden psychosozialen Diensten. Dennoch werden die Leitlinien wieder aufgegeben.

Erfolge zeigte auch eine andere Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums (BMFSFJ, 1998). Zu den Leistungen und Grenzen der Heimerziehung wurde festgestellt: In den Hilfen zur Erziehung gibt es in 75% der Fälle Besserungen. Erfolge also, die andere Behandlungs- und Straf-Systeme nicht aufweisen. Weshalb wird die Jugendhilfe dennoch systematisch schlecht geredet?

Faktisch sind es immer Einzelfälle, die benutzt werden, um der gesamten Jugendhilfe Versagen zu attestieren. Besonders in Wahlkämpfen taugen positive Nachweise liberaler Konzepte nicht für Schlagzeilen.

Die soziale Entwicklung der 90er Jahre

Wenn sich die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche verschärft, steigen die Kriminalitätskurven, so einer der es wissen mußte, der Polizeipräsident Haas aus Stuttgart (Haas, 1998): Wenn Sozialhilfe als Gradmesser für neue Armut gelten kann, sind in Hamburg seit 1980 etwa 3-mal so viele Familien von Armut betroffen (Armutsbericht, Bange, 1998).

Die viel beschworene ideale Standardfamilie existiert immer seltener, die Restfamilie wird mit Ansprüchen hoffnungslos überfrachtet, das sind überhöhte, soziale, pädagogische und emotionale Forderungen, dazu kommen: höhere Scheidungsraten, transkulturell zusammengesetzte Familien, (PATCHWORK-, Vielväter-, Lebensabschnitts-, Eineltern-, die Pflege-, Adoptiv- und andere Arten von Ersatz-Familien).

Der Einfluß der Medien und Peers bestimmt das Leben von Kindern noch mehr als früher.

Etwa 500.000 Kinder und Jugendliche beanspruchen bundesweit Hilfen zur Erziehung und /oder leben bei Ersatzeltern, Betreuern u.a. Das Trauma, aus der Familie herauszufallen ist goß (Bundestagsdrucksache, 1998 ). Die Ausstattung der Einrichtungen, hat nicht in notwendiger Weise Schritt halten können. Eine Enquete – Kommission zum Thema Jugendkriminalität analysierte für die Hamburger Betreuungssituation viele Mängel (Drucksache der FHH, 2000 ). Anzusetzen wäre danach bei den strukturellen Verbesserungen, in Richtung mehr Kooperation der verschiedenen (Spezial-) Dienste, dem Ausbau der pädagogischen Hilfen zur Haftvermeidung, wie Diversionsprogramme, gemeinsame interdisziplinäre Versorgungsverantwortung, verbesserte Eingliederung und Regelversorgung in Schule und Kindergarten bzw. Tagesheim (Köttgen, 1998).

Der Akzent in den Jahren nach 1990 wird auf die Heilung der Kräfte des Marktes gelegt. Die privatwirtschaftliche Konkurrenz, auch eine große Vielfalt an Angeboten, ist tatsächlich entstanden; gleichzeitig nimmt aber auch – da vor allem der Profit und Erhalt der Budgets und Institutionen Maßstab wird – eine Entsolidarisierung und eine Ausgrenzung der Schwächsten zu. Die Gruppe derer, die in die schönen, neuen Praxen und Spezialeinrichtungen nicht mehr passen will, wird größer.

Eine solche Stimmung macht nicht Halt vor den Trägern der Jugendhilfe: auch hier gibt es eine Verschärfung der Konkurrenz, der Kampf um die Wenigen mit besserer Prognose. Teile der Jugendhilfe sind mit den Folgen der Armut und Ausgrenzung alleine gelassen. Der öffentliche Druck verlangt mehr z.B. geschlossene Unterbringung (gU). Die gU ist zum kurzsichtigen Symbol der Sicherheit geworden. Es wird auf Patentrezepte gesetzt. Es geht um die Verteilung der knapper werdenden Ressourcen. Nicht das Wohl der Kinder, mehr das Wohl der “Besserverdienenden” und Träger von Institutionen bestimmt die Debatte: qualifizierte medizinisch therapeutische Angebote für die Einen, Wegsperren für die Anderen. Ein Ausbau von Plätzen in allen genannten Bereichen hat nicht zu mehr Sicherheit beigetragen.

Mehr Kinder werden nach außerhalb (hier von Hamburg aus) in Psychiatrien und zwischen Jugendhilfeeinrichtungen hin und her verschoben. Zeitweise waren es fast die Hälfte der stationär untergebrachten Jugendlichen und Kinder in den Hilfen zur Erziehung.

Die Jugendlichen kehren als Entwurzelte an ihre Heimatorte zurück und viele suchen dann den Halt auf dem abschüssigen Gelände der Kieze, hier werden sie für alle sichtbar störend “Ausgegrenzt und mittendrin”. Ihre lebenswichtigen Beziehungen wurden auf dieser unfreiwilligen Wanderschaft abgebrochen. Die bei Schone noch beschriebene gute Kooperation, weicht Abgrenzungs- und Konkurrenzstreitigkeiten. Elementare Bedürfnisse junger Menschen bleiben – bei zunehmend mehr jungen Leuten – auf der Strecke. Es sind benachteiligte Jugendliche, Kinder von Migranten, Aussiedlern, Armuts – Familien, die in geschlossenen Einrichtungen verwahrt, mit Psychopharmaka ruhig gestellt, bzw. “behandelt” werden; sie bewegen sich zwischen Heimen, Strafen und Psychiatrien. Es war absehbar, daß die Ausgrenzung und auch die Gewalt weiter steigen würden.

Zur Rechtslage der geschlossenen Unterbringung (gU)

Geschlossene längerfristige Unterbringung (gU) ist nach dem Kinder und Jugendhilfegesetz (KJHG) nicht zulässig.

  • “Eine längerfristige geschlossene Unterbringung (g U) in Einrichtungen der Jugendhilfe ist nach derzeitiger Rechtslage allein nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) möglich”, (Schlink et al 1997)

Zur Vermeidung von Untersuchungshaft oder Strafvollzug nach dem JGG wird häufiger in der Jugendhilfe untergebracht.

  • “§1631 Satz 1 BGB ist verfassungswidrig und nichtig”.
  • “Die Psychiatrischen Kranken Gesetze (PsychKG) sind für eine geschlossene Unterbringung (gU) in der Jugendhilfe nicht tauglich”
  • “Kurzfristig ist eine gU in einem Heim der Jugendhilfe möglich auf Grund von § 42 Abs. 3 Sozialhilfegesetzes (SGBVIII), die Inobhutnahme und §1631 S. 2 BGB” weiter: “hier ergeben sich aber Voraussetzungen aus dem präzisen Begriffstatbestand, wonach eine konkrete Gefahr für Leib und/oder Leben des Kindes oder Dritter die gU erforderlich machen muss. Die Interessen der Eltern sind dabei zu berücksichtigen” (Schlink et al, 1997).

Rechtmäßig dürfen Jugendliche nur zur Vermeidung der U Haft, nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) geschlossen untergebracht werden. § 42 KJHG Inobhutnahme, dient zum Schutze des Lebens und das von Dritten, sofern diese akut bedroht sind und nur solange, wie die Gefahr anhält.

Gibt es mehr Sicherheit durch Wegsperren?

Die Erfahrungen sprechen dagegen. Die Rechtsprechung im KJHG schränkt geschlossene Unterbringung (g U) junger Menschen, wegen der bekannten negativen Folgen, auf Dauer sehr eng ein, zeitlich und in Bezug auf die Gründe (Selbst- und /oder Fremdgefährdung solange sie anhält). Einfache Patentrezepte gibt es in der Praxis und der Rechtsprechung nicht.

Freundlichere geschlossene Systeme sollen – bei den gewalttätigen und delinquenten Wegläufern – dazu beitragen Beziehungen herzustellen, so wird von Vertretern argumentiert, die für mehr Strafen sind. Es soll kein Entlaufen möglich sein. Also doch Gefängnisse? Aber selbst dort gibt es Entweichungen.

Die Zahlen der mißlungenen Resozialisierungen im Jugendstrafvollzug sprechen gegen diese Thesen. Durchschlagende Erfolge der geschlossenen Unterbringungen sind nicht bekannt. Berichte über neue geschlossene Einrichtungen überzeugen nicht, da strenge Ausschlußkriterien bei den Aufnahmen gelten. Die Jugendhilfe aber muß alle dort abgewiesenen, auch Drogenabhängige, Minderbegabte und Migranten ohne Sprachkenntnisse, in ihre Hilfen einbeziehen, (Senatsdrucksache 16/4000, 2000 ). Erfolgreiche Integration von vormals Ausgegrenzten ist langwierig. Besser ist frühzeitige Förderung und mehr Gerechtigkeit.

Schlußbemerkung

Bringt jemand sich oder andere in Gefahr, muß natürlich akut vor Gefährdung geschützt werden, mit den jeweiligen Mitteln, die sich in der Situation ergeben. Droht jemand aus dem Fenster zu springen, bedroht er/sie andere, wird eingeschritten, mit aller Kraft. Der Jugendliche soll in dieser Krise nicht alleine gelassen werden, schon gar nicht alleine eingesperrt sein. Betreuer oder Bürger bringen diesen Menschen an einen Ort, der sicher ist. Es gilt den Grund für die Krise zu erfahren und zu versuchen Abhilfe zu schaffen, alles andere ist unterlassene Hilfeleistung. Das ist die ganz normale Bürgerpflicht, die noch immer Gültigkeit besitzt.

Eine geschlossene Institution, ist dauerhaft auch dann geschlossen, wenn keine Gefahr besteht, erzeugt künstlich ein System, das neue Gefahren der Gewalt produziert. Jugendliche werden versuchen auszusteigen, sich aus dem Fenster ab zu seilen, sich und andere dadurch zu gefährden, sie entwickeln Haß auf die Mauern und die Wärter u.a. Jede Anstalt, seien es Heime für: Behinderte, Alte, psychisch Kranke und Delinquente, sobald sie aufgebaut wurden, sind sie belegt worden, meist wurden sie erweitert. Sie schufen jeweils die Probleme, zu deren Behebung sie den Auftrag hatten: chronisch psychisch Kranke, Hospitalisierte, Gangs, Banden von Delinquenten, Outlaws. Entwicklungen bewegen sich wellenförmig. Muß jeder Irrtum wiederholt werden?

Diese Gesellschaft braucht Jugend, sie ist überaltert und von Hinfälligkeit befallen. Jeder Jugendliche zählt. Jugend ist Hoffnungsträger einer Gesellschaft. Große Teile der Jugend werden als Schulversager, Delinquente, psychisch Behinderte und Sucht- Kranke abgestempelt. Sie werden erzeugt durch ein subtiles System der Ausgrenzung und Perspektivelosigkeit. An dem Mechanismus sind viele – auch Fachleute und Politiker – beteiligt. Die Alten frönen ihrem Jugendkult und rächen sich an denen, die Jugend haben, jugendlich sind. Die Wut und Verzweiflung junger Menschen schlägt zurück: Vandalismus, Gewaltdelikte und Drogen sind nur Symptome, nicht die Ursache. Sie können verschärft aber auch abgebaut werden.

Es gibt keine Sicherheit, solange soziale Ungerechtigkeiten herrscht. Wir brauchen eine andere Haltung, eine veränderte Sicht auf Jugend.

Jede Metropole hat ihre Probleme mit Jugendkriminalität. Immer sind es wenige, die alle ratlos machen. Dieser gesellschaftlichen Herausforderung und den neuen Problemlagen wird man sich zu jeder Zeit stellen müssen, z.B. den Folgen von Kriegen und Armutswanderungen.

Das gelobte Land des gelungenen “Law and Orders” (die USA) bezahlt mittlerweile horrende Summen für die Sicherheiten der Besitzenden. Fast 20% der Gefängnisinsassen seien aber psychisch kranke Menschen: “Wir sind wieder da gelandet, wo wir vor 150 Jahren schon einmal waren” klagt Fuller Torrey (vom NIMH ). In den teuren und ineffektiven Aufbewahrungsanstalten sammeln sich die Ausgegrenzten mit sozialen, rassischen und psychischen Problemen, oft junge Leute. Die Kriminalisierung Armer und Irrer ist längst wieder Realität.

Es wird für bessere Lebensbedingungen, berufliche und schulische Qualifizierung, strukturell verankerte Kooperation und Vernetzung gekämpft werden müssen. Je breiter das Fundament ist, auf dem die gemeinsam angebotenen fördernd, fordernden Hilfen stehen, desto wirksamer sind sie. Gut bezahlte Fachkräfte mit Forschungs- und Publikationsmöglichkeiten befinden sich weiterhin in den stationären und besser ausgestatteten universitären, vor allem medizinischen Einrichtungen, während die Basisversorgung von der Jugendhilfe und der sozialen Arbeit mit relativ immer weniger Mitteln geleistet wird. Das Interesse an deren gelungenen Konzepten und Erfolgen ist gering, diese Arbeit wird kaum beforscht. Wenn aber doch einmal geforscht wurde, werden gute Ergebnisse als Ideologie abgetan, sie werden wenig publiziert und möglichst nicht rezipiert. Die Ideologie, des Wegsperrens, treibt derweil neue Blüten.

Konzepte für mehr Integrations- und Teilhabechancen aller Kinder und Jugendlicher, so konnte gezeigt werden, sind besser, als die Wiederholung untauglicher Patentrezepte.

Erschienen in: A. Trojan, A. Döhner (Hrsg). (2002). Gesellschaft, Gesundheit und Medizin. Frankfurt: Mabuse Verlag. S. 352-363.

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