Michael Lindenberg: Der Versuch der Wiedereinführung geschlossener Unterbringung in Hamburg

September 2002 | SozialExtra – Zeitschrift für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, Heft 9/2002

Seit dem Regierungswechsel in Hamburg von einer Rot-Grünen Koalition zu einem konservativen Block ist mir dieser Satz häufig begegnet: “Nun hat es Sie auch erwischt. Nun sind Sie auch dran.” Dran mit was? Unterstellt wird, dass ein derartiger Regierungswechsel nachhaltige Folgen für die Soziale Arbeit hat – auf ihre finanzielle Ausstattung, ihre fachlichen Standards, ihr Ansehen in der Öffentlichkeit. Und wie zu erwarten war, ist es zu materiellen Einschnitten gekommen, und zwar vor allem für die Soziale Arbeit mit dem Klientel, dass unter einem besonders geringem Ansehen leidet (vgl. zu den Kürzungen www.schlechter-streich.de). Diesen Punkt will ich hier jedoch nicht besprechen. Sondern ich will anhand eines Hamburger Fallbeispiels – dem Versuch der Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung für (oder gegen) Kinder und Jugendliche – darstellen, wie die Diskussion in der Sozialen Arbeit unter einem konservativen Block geführt wird. Meine beiden Fragen sind: Wer argumentiert mit welchen Gründen für geschlossene Unterbringung, und wie positioniert sich die Fachwelt dazu?

Ein Kommentator in der “Welt” formulierte: “Sieht man einmal von ein paar populistischen Scharfmachern aus dem rechten und dem linken Spektrum ab, so gibt es unter Fachleuten kaum mehr ernsthaften Streit. Im Grundsatz sind sich alle darüber einig, dass beides notwendig ist. Die Jugendlichen hinter Schloss und Riegel zu bringen und sie intensiv pädagogisch zu betreuen.” (Schirg 2002) Doch offensichtlich gibt es in der Jugendhilfe nicht sehr viele Pädagogen, die sich in ihrem pädagogischen Alltag auf Schloss und Riegel angewiesen sehen. Wenn es unter Fachleuten kaum mehr ernsthaften Streit gibt, dann in der Ablehnung der Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung. Innerhalb eines Monats nach der Veröffentlichung der Pläne zu ihrer Wiedereinführung (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2002a) hat die Fachwelt ihre Kritik und nicht ihre Zustimmung in deutlichen Worten formuliert. Es sind so viele ablehnende Stellungnahmen erschienen, dass ich sie in einer Fußnote anführe, um den Textfluss nicht zu unterbrechen. (2) Doch zunächst zu den Hintergründen.

Was ist in Hamburg geplant?

1981 wurden in Hamburg im Rahmen einer Heimreform unter dem Motto “Menschen statt Mauern” die rund 20 Amtsheime aufgehoben (Bittscheidt-Peters & Koch 1981). Während dieser Reform fiel auf, so formulierte der damals zuständige Senator in der Rückschau, “dass auch Kinder und Jugendliche Träger von Grundrechten sein könnten und für sie bei Freiheitsentziehung die Rechtsgarantien des Artikels 104 Grundgesetz gelten.” (Ehlers 2002,2). Unterstützt und ermöglicht wurde diese Reform aber auch durch den Pillenknick. Er führte bei gleichbleibender Personalstärke zu einer Halbierung der Zahl der Kinder und Jugendlichen in den Heimen. Geschlossene Unterbringung war seither in Hamburg nicht mehr möglich. Im “Vertrag über die Koalition von CDU, Schill-Partei und FDP für die Legislaturperiode 2001-2005” wird dann jedoch gut zwanzig Jahre nach der Abschaffung der geschlossenen Unterbringung erstmalig als Regierungsprogramm formuliert: “Für Intensivtäter (insbesondere Gewalttäter und Dealer) wird die erforderliche Zahl von Plätzen in geschlossenen Einrichtungen bereitgestellt. Die Einrichtungen orientieren sich an den modernen Grundsätzen zur erzieherischen Betreuung.” In der Presseerklärung der zuständigen Senatorin vom Juli 2002 zur geplanten Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung wird entsprechend ausgeführt: “Auf kriminelles Verhalten von Minderjährigen wird in Hamburg künftig zügig, konsequent und mit der gebotenen Härte reagiert. Dafür hat die Behörde für Soziales und Familie ein bundesweit einmaliges Konzept mit einem abgestuften Maßnahmenkatalog erarbeitet, an dessen Ende die geschlossene Unterbringung mit insgesamt 90 Plätzen steht.” (Freie und Hansestadt Hamburg 2002a,1) Wie sieht dieses bundesweit einmalige Konzept aus? Zunächst soll ein “Familien-Interventions-Team” (FIT) alle Daten delinquenter Kinder und Jugendlicher von der Polizei erhalten und erfassen. “Sobald ein Minderjähriger der Polizei auffällt, greifen die Mitarbeiter des FIT künftig ein, alle Eltern erhalten einen unverzüglichen Hausbesuch. Helfen die eingeleiteten Maßnahmen nicht, gibt es kein langes Zögern mehr. Die Kinder und Jugendlichen werden in eine geschlossene Unterbringung eingewiesen.” (ebd.)

In einer von der Behörde bereits formulierten Drucksache, dem angekündigten Konzept, (Freie und Hansestadt Hamburg 2002b) ist die Rede von einer “Kurskorrektur im Umgang mit Minderjährigen, die andere und sich selbst durch wiederholte und gefährliche Straftaten gefährden.” Diese Vorlage unterscheidet “Maßnahmen bei weniger schweren Delikten” sowie “Maßnahmen bei minderjährigen Gewalttätern.” In der ersten Maßnahme-Gruppe gibt das Familien-Interventions-Team die Durchführungsverantwortung für die Erziehungshilfe an den Allgemeinen Sozialen Dienst ab, kontrolliert aber dessen Entscheidungen und die Einhaltung der zweckbestimmten Handlungen. In der zweiten Gruppe der “minderjährigen Gewalttäter” sind drei Interventions-Stufen vorgesehen: Im ersten Schritt sollen im Rahmen eines Hilfeplanes Erziehungshilfen in Regeleinrichtungen durchgeführt werden. Die Eltern und die Minderjährigen sollen schriftlich der Einhaltung des Hilfeplanes zustimmen, um sie auf diese Weise “in die Pflicht zu nehmen”. Lehnen die Eltern dies ab, so soll in einem zweiten Schritt ein Ermahnungsgespräch im Familiengericht geführt werden, um ihre Mitwirkung zu erreichen. Und drittens: “Stimmen die personensorgeberechtigten Eltern dem nicht zu, wird ein Sorgerechtsverfahren beim zuständigen Familiengericht mit dem Ziel eingeleitet, das Personensorgerecht oder Teile davon auf das Amt für Jugend als Pfleger oder Vormund zu übertragen. (…) Der Minderjährige wird dann gemäß der richterlichen Entscheidung entweder in einer regulären Einrichtung gemäß § 34 SGB VIII oder in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht.” (Freie und Hansestadt Hamburg 2002b). In der geschlossenen Unterbringung selbst sind ebenfalls drei Stufen vorgesehen. In der ersten Phase (eine genaue Angabe über ihre Dauer wird nicht getroffen) werden die Jugendlichen in einer “strikt geschlossenen Aufnahmegruppe” untergebracht. In der zweiten Phase (bis zu sechs Monate) soll in einer “Regelgruppe” Ausgang innerhalb des Heimgeländes sowie bis zu zwei Mal pro Woche ein zweistündiger Ausgang möglich sein. In der dritten Phase (vier bis sechs Monate) können Ausgänge häufiger gewährt werden.

Die Planung für die geschlossene Unterbringung selbst sieht drei Gruppen vor: Erstens 25 Plätze für Kinder, zweitens 50 Plätze für Jugendliche, drittens 15 Plätze für minderjährige Jugendliche, die mit ihrer baldigen Abschiebung rechnen müssen (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2002b).

Wie soll die geschlossene Unterbringung rechtlich ermöglicht werden?

Zu den Rechtsgrundlagen wird in dem Konzept formuliert. “Die Aufnahme von Minderjährigen findet auf der Grundlage eines Beschlusses des Familiengerichts statt (§ 1631b BGB).” Kritiker der Wiedereinführung führen dagegen an, dass dies nicht ohne weiteres möglich ist. Sie berufen sich dabei zunächst auf das Grundgesetz. Dort wird in Artikel 2 bestimmt, dass in das Recht der Freiheit der Person nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Artikel 104 beschreibt diese Rechtsgarantien, z.B., dass über die Zulässigkeit und die Fortdauer einer Freiheitsentziehung nur Richter zu entscheiden haben. Artikel 6 Abs. 3 legt darüber hinaus fest, dass Kinder nur unter strengen Voraussetzungen gegen den Willen der Erziehungsberechtigten von der Familie getrennt werden dürfen. Dieser Willen der Erziehungsberechtigten wird mit den Regelungen des § 1631b BGB maßvoll eingeschränkt, denn das Gericht kann auch hier keine Freiheitsentziehung anordnen, sondern sie lediglich auf einen von den Personensorgeberechtigten zu stellenden Antrag hin genehmigen. Ohne diese Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist (vgl. Landesjugendamt Brandenburg 2001,6). Festzuhalten ist, dass eine freiheitsentziehende Unterbringung gegen den Willen der Minderjährigen in jedem Fall der richterlichen Genehmigung bedarf, und zwar auch dann, wenn sie auf Wunsch oder mit Zustimmung der Eltern erfolgt.

Unter Juristen ist es allerdings strittig, ob § 1361b BGB als Rechtsgrundlage für die geschlossene Unterbringung zur Anwendung kommen darf. Ein im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter erstelltes Gutachten kommt zu dem Schluss, dass Freiheitsentziehung über den 1361b BGB nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl. Schlink & Schattenfroh 2001). Im Elften Jugendbericht (2002,240) wird dazu formuliert, dass “allein akute Selbst- und Fremdgefährdung ausschlaggebende Gründe sein. Voraussetzung ist also, dass Gefahr für Leib und Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen oder dritter Personen vorliegt. Die Gefährdung anderer Rechtsgüter (Eigentum, öffentliche Ordnung etc.) reicht nicht als Einweisungsgrund aus.” Nach dieser Auffassung ist eine “geschlossene Unterbringung (…) nur gerechtfertigt, wenn sonst das .Wohl des Kindes’ gefährdet ist. Es reicht nicht, dass das Kind andere gefährdet, es muss sich selbst gefährden. Und wenn es geschlossen untergebracht wird, muss immer wieder neu geprüft werden, ob dies noch nötig ist.” (Bernzen & Kutter 2002)

Welches Ausmaß hat die geschlossene Unterbringung in Deutschland?

Dazu gibt es unterschiedliche Antworten. Dem Elften Jugendbericht zufolge (3) sind keine Einrichtungen bekannt, die ausschließlich freiheitsentziehende Maßnahmen vorhalten, wie dies in Hamburg geplant ist. Danach werden in Regeleinrichtungen lediglich einzelne geschlossene Plätze vorgehalten. Deutlich sei aber, dass sich zunehmend fließende Übergänge zwischen “offenen”, “halboffenen” “individuell-geschlossenen” und “geschlossenen” Formen herausgebildet haben (Elfter Jugendbericht 2002,240). Zu den Platzzahlen trifft der Elfte Kinder- und Jugendbericht drei unterschiedliche Angaben: Erstens werden 122 Plätze entsprechend einer Umfrage vom Sommer 1996 bei den Landesjugendämtern angegeben; zweitens 84 Plätze gemäß der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik; drittens 146 Plätze nach einer Angabe der IGFH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen). Diese letzte Angabe deckt sich mit einer Umfrage des Landesjugendamtes des Saarlands. Nach dieser Umfrage hielten im Juni 2000 acht Einrichtungen insgesamt 146 Plätze vor. Dies entspricht einer Steigerung um 21 Plätze gegenüber 1998 (4).

Der Begriff “geschlossene Unterbringung” wird jedoch, wie dies auch der Elfte Jugendbericht deutlich gemacht hat, bis auf wenige Ausnahmen vermieden. Dies sind die gewählten Begriffe: “pädagogisch-betreute Intensivgruppe”; “individuelle Teilgeschlossenheit”; “intensiv-pädagogische Gruppe”; “individuell-geschlossene intensivtherapeutische Gruppe”; “teilgeschlossene Gruppe.” (Landesjugendamt Saarland 2001)

Zur Bewertung der Debatte in Hamburg

Zunächst einmal: Die Fachwelt hat die Debatte um die geschlossene Unterbringung nicht selbst gewählt. Diese Diskussion wird ihr immer wieder neu von der Politik aufgezwungen (vgl. Fegert 1998; Landesjugendamt Brandenburg 2001,2). So ist es auch in Hamburg. Die Fachwelt hat in einer über zwanzigjährigen Praxis eine klare Position herausgebildet. Diese Position kann anhand der Stellungnahme der IGFH verdeutlicht werden (vgl. den Abdruck dieser Stellungnahme in diesen Heft sowie ergänzend Kutter & Trede 2002): Vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Ablehnung wird von dem bundesweiten Fachverband ein Freiheitsentzug in Übereinstimmung mit der dargelegten juristischen Position nur dann für sinnvoll gehalten, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. Doch auch in diesen besonderen Fällen wird einer geschlossenen Unterbringung jeweils nur für kurze Dauer zugestimmt. Daher besteht keinesfalls eine fachliche Mehrheitsmeinung, wonach eine auf ca. ein Jahr hin angelegte quasi-therapeutische Beziehung in geschlossener Unterbringung sinnvoll ist. Dies ist in der Hamburger Konzeption jedoch vorgesehen.

Die Stellung der Sachverständigenkommission des Elften Jugendberichts ist in ihrem Ausgangspunkt der Position der IGFH vergleichbar. Auch die Bundesregierung hat sich dieser Position angeschlossen (5), jedoch noch eine “andere Seite” betont: “Auf der anderen Seite hält die Bundesregierung in spezifischen fallbezogenen Konstellationen freiheitseinschränkende Unterbringungsformen in der von der Kommission dargestellten differenzierten Art für geeignet, um auf diese Weise einen Einstieg in eine pädagogische Beziehung zu schaffen, der sich manche Kinder und Jugendliche andernfalls von vornherein entziehen.” (Bundesministerium 2002,25) Diese Formulierung zeigt nun allerdings auf die Möglichkeit, mit Hilfe diagnostischer Verfahren einen auch fachlich – und nicht nur ordnungspolitisch – legitimierten Einstieg in die geschlossene Unterbringung zu schaffen. Und tatsächlich wird wenig später vorgeschlagen, “geeignete Verfahren und Methoden der sozialen Diagnostik” (ebd.) zu entwickeln. Dieser diagnostisch-therapeutische Weg in die geschlossene Unterbringung ist von Teilen der Praxis aufgegriffen worden, bietet er doch die Möglichkeit, der fachlichen Mehrheitsmeinung zur geschlossenen Unterbringung nicht offen widersprechen zu müssen (6). Dies zeigen in besonderer Deutlichkeit die Begriffe, die von den Durchführungseinrichtungen der geschlossenen Unterbringung gewählt worden sind. Diese Begriffe dienen im wesentlichen dazu, den Zwang zu verdecken und den therapeutischen Aspekt zu betonen. Diese Begriffe sind Euphemismen für geschlossene Unterbringung.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Hamburger Debatte um die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung von einer klaren Polarität gekennzeichnet. Diese Polarität besteht darin, dass auf der einen Seite die Kritiker der Wiedereinführung erstens sachliche und empirische Befunde über die pädagogische und ordnungspolitische Wirkungslosigkeit der geschlossenen Unterbringung in die Debatte einbringen und daher mit einer gewissen Rationalität argumentieren. Zweitens haben sie gewichtige juristische Argumente auf ihrer Seite. Drittens können sie sich auf einen breiten fachlichen Konsens beziehen.

Den Befürwortern der geschlossenen Unterbringung bleiben auf der anderen Seite diese drei Möglichkeiten versagt. Sie können sich erstens nicht auf empirischen Befunde beziehen, wonach etwa die Legalbewährung durch geschlossene Unterbringung verbessert wird, und es gibt auch keine Hinweise darauf, dass mit diesem Mittel ordnungspolitische Ziele erreicht und die Sicherheit und der Schutz der Bevölkerung erhöht werden können.

Sie bewegen sich zweitens auf einem äußerst unsicheren juristischen Terrain. Dies ist vor allem eine praktische Frage, denn die Abhängigkeit der geschlossenen Unterbringung von den Entscheidungen der FamilienrichterInnen schafft eine zusätzliche Unwägbarkeit. So formulierte der Jugendhilferechtler Bernzen (Bernzen & Kuttner 2002): “Es wird die Frage sein, ob so eine Einrichtung, wenn es sie erst mal gibt, überhaupt mit Jugendlichen gefüllt wird. Ich glaube, das wird eine Veranstaltung, in der Sozialarbeiter Kaffee trinken. Das ist alles nur ,just for Show’. (…) Denn sie brauchen für jeden einzelnen Jugendlichen, sogar für jeden einzelnen Tag, einen Beschluss des Vormundschaftsgerichts. Der Staat darf Kinder nicht einfach einsperren. Auch Eltern dürfen ihre Kinder nicht einfach einsperren. Das ist im Paragraf 1631 b des Bürgerlichen Gesetzbuches nachzulesen.”

Und drittens können sich die Befürworter nicht auf eine überwiegende fachliche Meinung stützen, sondern allenfalls auf eine ordnungspolitische Zustimmung von allerdings vermutlich großen Teilen der öffentlichen Meinung. Es ist jedoch für die Befürworter in der Sozialen Arbeit nicht opportun, sich dieser ordnungspolitischen Argumente zu bedienen. Von ihnen wird daher auf die Möglichkeit abgestellt, eine pädagogische – oder besser: eine therapeutische – Beziehung in besonderen Einzelfällen unter Zwang stiften zu wollen. So wird auch in der Hamburger Presserklärung des Senats zur Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung argumentiert: Zur Pädagogik wird ausgeführt: “Zum einen werden viele Familien frühzeitig bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützt. Denn Ziel ist es, Fehlentwicklungen und auch einer Verfestigung krimineller Verhaltensweisen der Minderjährigen vorzubeugen.” Und zum ordnungspolitischen Aspekt wird formuliert: “Zum anderen wird bei gefährlichen und schweren Gewalttaten mit der gebotenen und rechtlich zulässigen Härte reagiert, um die Minderjährigen vor sich selbst und die Bürger vor ihren Taten zu schützen.” (Freie und Hansestadt Hamburg 2002a,1)

Wie ist diese Verbindung aus Pädagogik (also Hilfe, Anleitung und Unterstützung für Kinder und Jugendliche bei ihrer Entwicklung) und Ordnungspolitik (also Strafe mit dem Ziel der General- und Spezialprävention) möglich? Diese Verbindung wird ganz maßgeblich durch das Leitbild des aktivierenden Staates hergestellt. Diesem Leitbild sind in Deutschland mittlerweile alle Parteien mit Regierungsverantwortung verpflichtet. Dieser aktivierende Staat will ein helfender und ein strafender Staat zugleich sein. Hilfe gibt es in diesem Staat vorrangig für diejenigen, die sich nicht selbst helfen können, also vor allem Behinderte und Kranke. Dazu formuliert die Hamburger Sozialsenatorin: “Es gibt Rechte und Pflichten im Sozialstaat. Wer Hilfe braucht, dem wird Hilfe gewährt. Aber die Devise lautet auch: Wer kann, aber nicht will, dem müssen wir nicht helfen.” (Schnieber-Jastram 2002) Strafe setzt immer dann ein, wenn die mit der Hilfegewährung verknüpften Erwartungen nicht erfüllt werden und dieses Versagen den Hilfeempfängern zugerechnet werden kann.

In diesem Spannungsfeld aus Hilfe und Strafe bewegt sich auch die Debatte um die geschlossene Unterbringung. Ich will dazu abschließend eine begriffliche Einstufung der vorzufindenden Positionen zur geschlossenen Unterbringung vornehmen. Erstens ist eine bedingungslose Ablehnung anzutreffen; zweitens eine grundsätzliche Ablehnung bei Zustimmung nur in besonderen Einzelfällen bei Gefahr für Leib und Leben und unter Wahrung hoher Prüfkriterien; drittens eine Zustimmung aus pädagogischen oder therapeutischen Gründen unter Anerkennung und Förderung der ordnungspolitischen Aspekte; viertens eine Zustimmung ausschließlich aus ordnungspolitischen Gründen. Die Übergänge sind sicher fließend. Doch stehen sich im Rahmen der Politik des aktivierenden Staates vor allem die Positionen zwei (die Position eines großen Teils der Jugendhilfe und auch der Jugendstraffälligenhilfe) und die Position drei (die Stellung des Hamburger Senats) strittig gegenüber.

Die Entwicklungsberichte schwieriger Kinder und Jugendlicher schließen häufig mit der Formel: “Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten”. Das ist auch bei der Debatte um die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung der Fall.

Anmerkungen:

  1. Horner Weg, 170, 22111 Hamburg, E-Mail: mlindenberg@rauheshaus.de
  2. Sozialpolitische Opposition Hamburg (vgl. www.lichter-der-grossstadt.de mit weiteren Nachweisen); 39 Einrichtungen der Jugendhilfe, die eine ablehnende Stellungnahme unterzeichnet haben; Jan Ehlers, ein SPD-Politiker, der seinerzeit die Abschaffung der geschlossenen Heime maßgeblich mit zu verantworten hatte (Ehlers 2002); PRO ASYL und Bundesfachverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (vgl. Spanner 2002); Kriminologische Initiative Hamburg; Gewerkschaft ver.di; “Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung”; Ev. Fachhochschule des Rauhen Hauses (vgl. Ahrens 2002a); Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Sozialpädagogik; GAL Hamburg;
    Landesjugendhilfeausschuss; er hatte sich bereits im Januar des Jahres gegen die Wiedereinführung ausgesprochen; Kampagne: “Warnstreik gegen geschlossene Unterbringung”; IGFH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen) (Hamburg auf dem Weg zurück zur alten Zwangsfürsorge) (vgl. die tageszeitung vom 18.07.02);
    Leiter der Abteilung für Kinderpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf (vgl. Ahrens 2002); Diakonisches Werk Hamburg (vgl. NEZ 14.07.02); Evangelische Landespastorin (vgl. NEZ 14.07.02); Paritätischer Wohlfahrtsverband (vgl. die Welt 29.07.02); Evangelischer Erziehungsverband e.V. (EREV); Verein BASIS e.V; Margarethenhort, Jugendhilfezentrum des Ev.-luth. Gesamtverbandes Hamburg-Harburg.
  3. Der im übrigen zur Frage der geschlossenen Unterbringung klar formuliert, dass die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Jugendhilfe nach sicherer Verwahrung und Strafe “dem gesetzlichen Auftrag der Heime, den gesetzlich zu erfüllenden Voraussetzungen für eine Einweisung in diese Heime und allen mittlerweile etablierten fachlichen Standards” widersprechen. (11. Jugendbericht 2002,240) Daher sei nur “in wenigen, sehr seltenen Konstellationen die zeitweilige pädagogische Betreuung in einer geschlossenen Gruppe eine dem jeweiligen Fall angemessene Form der Intervention.” (ebd.)
  4. Diese Plätze verteilten sich auf 6 Landesjugendamtsbereiche: Niedersachsen mit einer Einrichtung von 8 Plätzen für Jungen; LWV Baden mit 2 Einrichtungen mit je 12 Plätzen für Mädchen; Rheinland-Pfalz mit einer Einrichtung mit 9 Plätzen für Jungen; Bayern mit zwei Einrichtungen, jeweils 42 Plätzen für Mädchen und 18 Plätzen für Jungen; Westfalen-Lippe mit einer Einrichtung mit 27 Plätzen für Jungen; schließlich LWV Würtemberg-Hohenzollern mit einer Einrichtung mit 18 Plätzen für Jungen (Landesjugendamt Saarland 2001).
  5. “Die Bundesregierung teilt die Position der Sachverständigenkommission zur geschlossenen Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Jugendhilfe. Sie weist darauf hin, dass geschlossene Unterbringung auf der Rechtsgrundlage des SGB VIII in Verbindung mit § 1631b BGB keinen Straf- bzw. Strafersatzcharakter hat. Auch zielt die geschlossene Unterbringung nicht auf die Sicherung und Verwahrung ab, sondern hat maßgeblich auf den erzieherischen Bedarf abzustellen.” (Bundesministerium 2002,25)
  6. Es handelt sich schließlich um einen “Sonderweg” für “besondere Einzelfälle”. Und da es ein Sonderweg ist, berührt er die fachliche Position scheinbar nicht. Das ist eine Argumentation, die von den AAT-Trainings (Anti-Aggressivitäts-Trainings) bekannt ist. Beispielhaft dazu Weidner als einer der Vertreter dieser Trainings (1999,101): “Fakt bleibt: Wir werden nicht von einer Welle der Jugendkriminalität überrollt, sondern es gibt eine kleine, überschaubare Kriminalitäts-Jugendelite in der Hansestadt, der Grenzen gesetzt werden müssen. Die Betonung liegt dabei auf klein (…).”

Nachweise

Ahrens, P. (2002a). Frau Senatorin Schließer-Jastram. Öffentliche Vorlesung gegen geschlossene Heime für Jugendliche. In: die tageszeitung (taz hamburg), 11.07.

Ahrens, P. (2002b). Senatorin Vollstreckerin. Sozialbehörde stellt Konzept der geschlossenen Heime für Jugendliche vor: 90 Plätze in Hamburg geplant. In: die tageszeitung (taz hamburg), 03.07.

Bernzen, C. & Kutter, K. (2002). “Alles nur Show”. Der Rechtsanwalt und Jugendhilfe-Experte Christian Bernzen im Interview: Geschlossene Heime werden leer bleiben. In: die tageszeitung (taz Hamburg), 01.02.

Bittscheidt-Peters, D. & Koch, U. (1982). Menschen statt Mauern. Ein Konzept auf dem Prüfstand. In: Staatliche Pressestelle Hamburg, Nr. 685 (7. Oktober): Behörde für Arbeit, Jugend und Soziales/ Amt für Jugend.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2002). Stellungnahme der Bundesregierung zum Elften Kinder- und Jugendbericht. Bonn.

Die Welt. (2002). Wohlfahrtsverband kritisiert Pläne gegen geschlossene Heime. 29.07.

Die tageszeitung (taz hamburg). (2002). Geschlossener Protest. Experten kritisieren Konzept zu geschlossenen Heimen. 18.07.

Ehlers, J. (2002). Diskussionsvorschlag zum Eckpunktepapier des Arbeitskreises Jugend der SPD-Bürgerschaftsfraktion für eine Reform der Hamburger Jugendhilfe. Hamburg: Manuskript.

Elfter Kinder- und Jugendbericht. (2002). Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bonn.

Fegert, J. F. (1998). Die (aufgezwungene) Debatte um die geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe. In: Jugendhilfe, 36, 208-216.

Freie und Hansestadt Hamburg. (2002a). Senatorin Schnieber-Jastram stellt Konzept zur geschlossenen Unterbringung für straffällige Kinder und Jugendliche vor. 90 gesicherte Plätze in Hamburg – unverzügliche Hausbesuche bei allen Eltern. Hamburg: Presseerklärung.

Freie und Hansestadt Hamburg. (2002b). Geschlossene Unterbringung für minderjährige Straftäter und Maßnahmen der Jugendhilfe zur Stärkung der Erziehungsverantwortung der Eltern. Hamburg: Manuskript.

Kutter, K. & Trede, W. (2002). “Hanebüchen”. Bundesweiter Fachverband für Erziehungshilfe kritisiert geschlossene Heime und befürchtet Eskalationsspirale für die gesamte Jugendhilfe. In: die tageszeitung (taz hamburg), 12.08.

Landesjugendamt Brandenburg. (2001). Alternativen und Empfehlungen des Landesjugendhilfeausschusses des Landes Brandenburg. Oranienburg: Manuskript.

Landesjugendamt Saarland. (2001). Bundesumfrage Juni 2000: Einrichtungen der Jugendhilfe, die geschlossene Unterbringung durchführen. Saarbrücken: Manuskript.

NEZ. (2002). Diakonie fordert Rückkehr zum fachlichen Dialog. 14.07.

Schirg, O. (2002). Geschlossene Heime und der Einzug des Realismus. In: Die Welt, 8.Juli.

Schlink, B. & Schaffenroth, S. (2001). Zulässigkeit der geschlossenen Unterbringung in Heimen der Jugendhilfe. In J. Fegert, K. Späth & L. Salgo (Hg.), Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie (S. 73 ff.). Münster: Votum.

Schnieber-Jastram, B. (2002). Viele kleine und große Baustellen. Sozialsenatorin im Gespräch. In: Neue KirchenZeitung, 07.07.

Spanner, E. (2002). Kein Glasmoor. Fachleute kritisieren, dass Hamburg faktisch Abschiebenknast für Kinder und Jugendliche schafft. In: die tageszeitung (taz hamburg), 10.07.

Weidner, J. (1999). Zivilcourage gegen Jugendkriminalität. In: Welt am Sonntag, 11. April, S. 101.

Dieser Beitrag wurde unter Texte / Aufsätze abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.